Jesus: wie er lebte und wirkte

Jesus: wie er lebte und wirkte

Wer sich mit Jesus beschäftigt, der beschäftigt sich meist mit dem Außergewöhnlichen, mit dem Besonderem, eben mit all dem, was ihn in unseren Augen einzigartig und göttlich macht. In den folgenden Zeilen möchte ich den umgekehrten Weg beschreiten. Jesus soll als galiläischer Jude des 1. Jahrhunderts in den Blick kommen: als Sohn seiner Eltern, als Erstgeborener unter einer Schar von Geschwistern, als Mensch mit Beruf und Alltag, als einer, der in und trotz seiner großen Berufung immer auch genötigt war, sich mit den menschlichen, oft allzu menschlichen und manchmal auch menschenunwürdigen Verhältnissen auseinanderzusetzen. Ich weiß nicht, ob uns auf diese Weise ein Glorienschein entgegenleuchtet, aber vielleicht kommen wir gerade so dem Geheimnis seines Lebens näher.

Jesu Familie
Wenn wir uns für die Familie Jesu interessieren, dann ist eines klar: Jesu Mutter hieß Maria (hebr. Mirijam). Ich betone dies, weil die Sachlage beim Vater Jesu alles andere als klar ist. Markus, immerhin der älteste Evangelist (70 n. Chr.), kennt nicht einmal seinen Namen und spricht von Jesus immer nur als „Sohn der Maria“. Matthäus und Lukas wissen zwar um Joseph, aber auch bei diesen beiden taucht er nur am Rande auf: in den stark theologisch orientierten Geburtsgeschichten oder – nur bei Lukas – in der Erzählung über den zwölfjährigen Jesus im Tempel. Kurz: Joseph verschwindet recht plötzlich und unvermittelt von der Bildfläche und es verwundert deshalb auch nicht, dass hier die Spekulationen blühen: Hat Joseph sich klammheimlich aus dem Staub gemacht? War er früh gestorben? Oder war Jesus gar ein uneheliches Kind? Wir wissen es nicht, aber der Gedanke, dass Jesus eine über weite strecken vaterlose Kindheit erlebt hat, ist durchaus plausibel. Ich überlege manchmal, ob es auch damit zusammenhängt, dass Jesus Gott immer mit dem intimen Abba (= Papa) angesprochen hat. Es könnte ja sein, dass die intime Beziehung zu seinem väterlich-mütterlichen Gott ihm geholfen hat, mit dem Verlust des leiblichen Vaters besser zu Rande zu kommen.
Interessant ist, dass Jesus nach Markus 6,3 vier Brüder (Jakobus, Joses, Judas, Simon) und mehrere Schwestern hatte. Das vertraute Weihnachtsbild von Maria, Joseph und Jesus als moderner Kleinfamilie entsprach der Wirklichkeit also nur für einen relativ kurzen Moment. Jesus lebte in einer Großfamilie, und deshalb darf man sich das Zuhause Jesu vermutlich auch nicht zu „kontemplativ“ vorstellen. Auch ist davon auszugehen, dass Jesus sich als Erstgeborener häufig um seine Geschwister kümmern musste, erst recht, wenn der Vater fehlte. Vielleicht hat er dabei manche kindliche „Tugenden“ entdeckt, die ihm dann später so wichtig wurden, dass er sie geradezu als Einlassbedingungen (Mk 10,15) für das Reich Gottes betrachtete: rückhaltloses Vertrauen, entwaffnende Ehrlichkeit, neugieriges Staunen über die Geheimnisse und Wunder des Lebens.
Als Jesus mit seiner öffentlichen Wirksamkeit begann, wurde das Verhältnis zur Familie immer schwieriger. Markus berichtet mit deutlichen Worten, dass der Familienclan ihn nach Nazareth zurückholen will, weil man den Sohn und Bruder für einen durchgedrehten religiösen Fanatiker hielt: „Er ist von Sinnen“ (Mk 3,20f). Erst nach der Auferstehung begann die Jesusfamilie an ihn zu glauben. Maria wurde zu einer wichtigen Person in der jüdischen Urgemeinde Jerusalems, und Jakobus, einer der Brüder Jesu, übernahm später die Führung der Gemeinde. Er war – so der jüdische Historiker Josephus Flavius – als gesetzestreuer Jude auch bei nicht christusgläubigen Juden äußerst beliebt.
Dieser Familienkonflikt macht deutlich, dass Menschen sich immer schwer tun, wenn einer, den man von Kindesbeinen an kennt, sich auf einmal zu Besonderem berufen fühlt. Dieser Konflikt wirft aber auch ein bezeichnendes Licht auf Jesus: Er zeigt, dass Jesus innerlich stark und frei war. Er scheute den Konflikt nicht. Gegen alle familiär-gesellschaftlichen Konventionen hatte er den Mut, seinen Weg zu gehen. Die primäre Quelle seines Selbstwertgefühls war die göttliche Liebe.

Nazareth zur Zeit Jesu
Obwohl Jesus die längste Zeit seines Lebens, über dreißig Jahre, in Nazareth verbracht hat, berichten die Evangelien selbst kaum etwas über den Heimatort Jesu. Deshalb ist es umso spannender, dass der Franziskanerarchäologe Bellarmino Bagatti dort Spuren einer dörflichen Siedlung aus dem 1. Jh. freilegte. Er fand Vorratsgrotten, in denen Getreide, Öl und Wein gelagert wurde. Er entdeckte Oliven- und Weinpressen, Zisternen, Mahlsteine und auch Wohnhöhlen. Seine Grabungsergebnisse zeigen, dass es sich bei Nazareth um ein kleines, an einen Hang gebautes jüdisches Bauerndorf handelte, in dem allerhöchstens ein paar Hundert Juden wohnten (vielleicht 200-300). Diese Menschen waren nicht bitterarm, aber lebten wie die meisten Galiläer in äußerst bescheidenen Verhältnissen.
In diesem Umfeld kann man sich nun auch gut vorstellen, dass Jesus wie sein Vater als Bauhandwerker (Mk 6,3) arbeitete. Ein Bauhandwerker (griechisch: technon) musste Holz- und Steinarbeiten ausführen. Wir können also davon ausgehen, dass Jesus sich nicht nur in höheren geistigen oder geistlichen Sphären bewegte, sondern wusste, wie der Arbeitsalltag eines hart arbeitenden Menschen aussieht.
Nazareth war klein, so unbedeutend, dass es weder im Alten Testament noch in den außerbiblischen Quellen jener Zeit auch nur ein einziges Mal erwähnt wird. Man kann schon verstehen, dass die Behauptung, aus diesem Flecken soll der Messias kommen, bei vielen auf Unverständnis stieß: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ (Joh 1,46)
Wir wissen nicht, wann und wie Jesus das erste Mal so richtig bewusst wurde, dass sein Gottesverhältnis einzigartig war und Gott ihn zu Besonderem berufen hatte, aber wenn die Evangelien erzählen, dass Jesus erst in einem für damalige Verhältnisse durchaus fortgeschrittenen Alter an die Öffentlichkeit trat, dann ist damit vielleicht angedeutet, dass auch Jesus längere Such- und Entwicklungsprozesse nötig hatte.

Jesu öffentliches Wirken in Galiläa
Als Jesus an die Öffentlichkeit trat, war er der Überzeugung, dass Gott bereit ist, die Sünde zu vergeben, um so einen radikalen Neuanfang zu ermöglichen. Gott wird in allernächster Zukunft das große überschäumende Fest ausrichten, in dem Menschen an Leib und Seele satt werden und das in der Sprache der damaligen Zeit „Reich Gottes“ hieß. Zu diesem Fest lädt Jesus ein. Dabei ging er davon aus, dass durch ihn schon jetzt etwas von der Wirklichkeit dieses Reiches zu erfahren ist: „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen.“ (Lk 11,20) Wenn Jesus in der Gegenwart heilt, will er damit also sagen: „Glaubt mir, bald ist es so weit. Was ihr um euch herum erlebt, ist schon ein Beginnen dieses letzten umfassenden Heilungsprozesses. So wie die ersten Frühlingsblumen den nahen Frühling ankündigen, so meine Taten das nahende Gottesreich. Es kommt ganz gewiss, und ich selbst werde bei dem, was Gott tun wird, eine entscheidende Rolle spielen.“.

Kapernaum: Jesu neues Zuhause?
Der Schwerpunkt des Wirkens Jesu waren drei Dörfer, die allesamt im nord-westlichen Bereich des Sees Genezareth lagen: Kapernaum, Bethsaida und Chorazin. Einen besonderen Stellenwert hatte dabei Kapernaum. Matthäus bezeichnet Kapernaum sogar als „seine Stadt“ (9,1), auch wenn es eher ein Großdorf als eine Stadt war. Tatsächlich war Kapernaum der Ort, in dem sich Jesus am häufigsten aufhielt und wo er viele Heilungstaten vollbrachte. Als neues „Zuhause“, das an die Stelle von Nazareth trat, sollte man Kapernaum aber besser nicht verstehen (so Mt 4,12-16). Typisch für die Lebensweise Jesu war ja gerade, dass er keinen festen Wohnsitz hatte (Lk 9,58), sondern als „Wandercharismatiker“ das Reich Gottes im ganzen Land verkündigte.
Nun mag die Bevorzugung von Kapernaum mit der verkehrstechnisch günstigen Lage zusammenhängen. Wenn Jesus mit seiner Botschaft ganz Israel erreichen wollte, dann, so ist anzunehmen, wird er sich auch darum bemüht haben, einen Ort als Ausgangsbasis zu finden, von dem aus er dieses Unternehmen sinnvoll in Gang bringen konnte. Nun konnte er von Kapernaum zwar nicht das ganze Land gut erreichen, aber immerhin den Norden. Das gegenüber Obergaliläa wesentlich stärker besiedelte Untergaliläa konnte er über die Genessarebene erreichen, und das Reich des Herodessohnes Philippus, das ungefähr vom heutigen Golan bis an die libanesische Grenze reichte, war von Kapernaum nur einen Katzensprung entfernt.
Die Vorliebe Jesu für Kapernaum wird allerdings noch mehr damit zusammenhängen, dass dort Petrus und sein Bruder Andreas wohnten. Hier konnte Jesus mitsamt seiner Jüngerschar immer wieder Unterkunft finden. Gerade weil die Jesusgruppe fast immer unterwegs war, werden die Jünger und Jüngerinnen Jesu froh darüber gewesen sein, in Kapernaum eine Art „Basiscamp“ zu haben. Ganz ohne Beheimatung geht es anscheinend auch bei Wandercharismatikern nicht.
In Kapernaum hat man manches ausgegraben, das in einem Zusammenhang mit der Zeit Jesu steht. So könnte die prächtige Kalksteinsynagoge aus dem 5. Jh. an dem Ort stehen – Fundamente und ein Basaltpflaster darunter deuten darauf hin – wo einst die Synagoge Jesu stand. Außerdem kann man dort das „Haus des Petrus“ sehen. Das klingt zwar ein wenig phantastisch, aber tatsächlich kann hier eine bis ins 2. Jh. zurück reichende christliche Verehrung nachgewiesen werden. Beeindruckend sind auch die Wohninseln, in denen ganze Großfamilien samt Angestellten lebten. Die Ausgrabungen zeigen, dass in Kapernaum vor allem Fischer, Bauern und Händler lebten: Menschen, die nicht bitterarm waren, aber zur Unterschicht gehörten und sich gewiss keinen großen Luxus leisten konnten. Das waren die Menschen, mit denen Jesus tagtäglich zu tun hatte.

Jesus und die Reichen
Herodes Antipas, der Herrscher Galiläas zur Zeit Jesu, hat zuerst in dem nur 5 km von Nazareth entfernten Sepphoris residiert, bis er dann im Jahr 19/20 n. Chr. Tiberias zur Hauptstadt machte. Nun ist auffällig, dass die Evangelien nie erwähnen, dass Jesus in einer dieser Städte gewirkt hat. Dies kann kaum Zufall sein, sondern dürfte seinen Grund darin haben, dass Jesus sich in erster Linie zu den Armen und Deklassierten gesandt sah, was exemplarisch auch in der ersten Seligpreisung zum Ausdruck kommt: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.“ (Lk 6,20) Dieser Nähe zu den Armen entspricht seine oft beißend scharfe Kritik an den Reichen und Mächtigen. Nun war die Zeit, in der Jesus in Galiläa lebte, aufgrund der langen und im Großen und Ganzen durchaus gedeihlichen Regierungszeit des Herodes Antipas wirtschaftlich relativ stabil. Es gab keine großen Krisen oder Hungersnöte und manche Juden werden davon auch profitiert haben. Aber eben nur die wenigsten. Diejenigen, die sowieso nur wenig hatten – und das waren die meisten –, rutschen durch die zunehmende Besteuerung schnell noch weiter nach unten ab. Wirtschaftlicher Aufschwung und eine immer größer werdende Kluft zwischen Armen und Reichen waren also kein Gegensatz. Sicher, das war nicht nur ein Problem in Galiläa, sondern auch in Juda und Jerusalem, aber dadurch, dass nach dem Tod von Herodes dem Großen durch Antipas die herodianische Macht nun direkt in Galiläa vertreten darf, dürfte sich die Spannung eher noch verstärkt haben. Als ein aus einfachen Verhältnissen kommender Galiläer nahm Jesus diese sozialen Spannungen sicher besonders intensiv wahr. Jesus war kein Sozialrevolutionär. Es ging ihm um die Gottesherrschaft. Aber diese zielt eben auch auf eine radikal neue und bessere Gesellschaftsordnung.

Dr. Peter Hirschberg

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