Das Heilige Land als fünftes Evangelium?

Das Heilige Land als fünftes Evangelium!?

„Sowohl von Jerusalem wie von Britannien aus steht der Himmel gleichermaßen offen; denn das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ (ep. 58,2-4) Wer dieses aus dem 4. Jh. stammende Wort des heiligen Hieronymus liest, wird darin vielleicht eine geniale Zusamenfassung dessen sehen, was es aus protestantischer Perspektive zum Thema Heiliges Land zu sagen gibt. Denn mag für katholische oder orthodoxe Christen die Heiligkeit von bestimmten Orten heute immer noch von Bedeutung sein, evangelische Christen haben diese grobe und etwas primitive Dinghaftigkeit des Glaubens schon lange überwunden. Sie haben von Jesus und Luther gelernt, daß wahre Anbetung nicht an bestimmte heilige Orte gebunden ist: die wahren Anbeter werden den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten (Joh 4,23f). So versteht man unter christlichem Glauben zuallererst eine innere Haltung, und diese ist – wie jeder und jede weiß – von Ortslagen unabhängig. Das Christentum ist keine kümmerliche Stammesreligion, sondern eine Weltreligion. Man möge sich deshalb bei der Wahrheit des Christentums bloß nicht dazu hinreissen lassen, diese Universalität durch zu enge und zu konkrete Bezüge auf einen bestimmten und dann noch so mickrigen Landstrich wie Israel/Palästina einzuschränken. Beten kann man in Amerika, Europa oder Asien genauso gut. Nicht umsonst sind die geistlichen Zentren der Christenheit bunt über den ganzen Globus verteilt. Auch die meisten großen theologischen Entwürfe sind schließlich nicht im Heiligen Land entstanden, wo man wegen der Hitze und der dauernden politischen Konflikte ohnehin nur schwer denken kann, sondern außer Landes, in den weltweit verstreuten geistigen Zentren des Christentums.

„Der Himmel steht überall gleichermaßen offen“ – wirklich?
So einfach, wie eben beschrieben, ist es nun aber leider doch nicht. Schon die faktische Wirklichkeit steht im Widerspruch zu diesem hehren und zugegebenermaßen etwas überzeichneten protestantischen Bekenntnis. Pilgerfahrten erfreuen sich nämlich immer noch großer Beliebtheit. Zwei Millionen Touristen kommen im jährlichen Durchschnitt ins Heilige Land, allein aus Deutschland zwischen 150.000 und 200.000. Nicht wenige davon sind Protestanten. Natürlich würden die wenigsten ihre Reise Pilgerfahrt nennen. Meist würde man wahrscheinlich von einer Studien- oder Begegnungsreise sprechen. Auch haben die wenigsten Evangelischen Interesse daran, heiliges Öl, Jordanwasser oder gar Reliquien mit nach Hause zu nehmen – obwohl auch das vorkommt: z.B. gar nicht selten bei Pfarrern oder Pfarrerinnen, die durch importiertes Jordanwasser das heimische Taufwasser etwas auffrischen wollen. Obwohl also heutige Reisen ins Heilige Land nicht einfach eine Neuauflage traditioneller Pilgerfahrten sind, die Veranstalter solcher Studienreisen sind eben doch nicht selten kirchliche Träger, und religiöse Inhalte sind in unterschiedlichem Umfang fast immer vorhanden. Irgendetwas erwartet man sich in religiöser Hinsicht anscheinend doch vom Heiligen Land. Zumal man woanders dezidiert besser Urlaub machen kann und auch zuzugeben ist, daß es viele Länder mit äußerlich imposanteren Ausgrabungen und Kulturdenkmälern gibt. Kurz und gut: Neben den Gegnern von Reisen ins Heilige Land, die es natürlich immer noch gibt, stehen durchaus nicht wenige Befürworter. Was nun die konfessionelle Dimension angeht, so scheint das Für und Wider eher quer durch die Kirchen zu gehen, auch wenn unterschiedliche Verständnisse von Heiligkeit das auf jeder Seite herrschende Verständis einer Pilgerfahrt nach wie vor bestimmen.
Die Spannung zwischen dem Beharren auf der Universalität des Christentums und der besonderen Heiligkeit des Heiligen Landes kam übrigens nicht erst mit den Kirchen der Reformation in die Welt. Schon immer gab es die, denen das himmlische Jerusalem über alles Irdische ging, während auf der anderen Seite die Gruppe derer stand, die keine Mühe scheuten, das irdische mit den eigenen Füßen zu betreten. Nicht selten finden sich beide Tendenzen sogar in ein und derselben Person. So hat der bereits zitierte Hieronymus seine bekannten Sätze eben nicht unter dem regenreichen und nebelverhangenen Himmel Britanniens geschrieben, sondern in Bethlehem, wo er bis zum Ende seines Lebens betete und arbeitete. Auch der berühmte Bernhard von Clairvaux zeigt eine ähnliche Ambivalenz in seiner Haltung. Eine Anekdote erzählt, daß einst ein gewisser Philipp, ein Jerusalemwallfahrer aus Lincoln, in seinem Kloster landete. Von der Herrlichkeit Clairvauxs überwältigt, gibt Philipp seine Jerusalempläne auf, um sich dort nun häuslich bzw. monastisch einzurichten. Seinem Abt in der Diözese Lincoln schreibt der große Bernhard daraufhin mit gewissem Stolz, daß Philipp nun in das wahre Jerusalem eingetreten ist, „das mit dem himmlischen vereint ist durch wahre Frömmigkeit des Herzens, Gleichförmigkeit des Lebens und eine gewisse geistige Übereinstimmung.“ Derselbe Bernhard hatte neben der mystischen aber auch noch eine andere Seele in der Brust. Jedenfalls begeisterte er sich so sehr für das Heilige Land, daß er den Bogen – jedenfalls aus unserer heutigen Sicht – gewaltig überspannte und zum Zweiten Kreuzzug aufrief.
Was also steckt dahinter, wenn einerseits die ortsunabhängige Universalität des christlichen Glaubens ein akzeptiertes Proprium ist, sich andererseits aber viele Menschen doch nicht ganz damit zufrieden geben wollen oder können? Was suchen all diese Menschen heute und damals, wenn in Deutschland der Himmel genauso offen steht wie in Galiläa oder in Jerusalem? Sind sie nur noch nicht zur vollen Reife des Glaubens durchgedrungen? Oder ist es vielleicht doch so, daß christlicher Glaube und das Heilige Land nicht so einfach auseinanderdividiert werden können.

Das Heilige Land als fünftes Evangelium!
Wenn im Titel dieses Artikels das Heilige Land als fünftes Evangelium bezeichnet wird, dann wird damit behauptet, daß das Heilige Land für den Glauben eine wichtige Bedeutung hat. Es ist eine einzigartige Verständnis- und Erschließungshilfe für das Alte und das Neue Testament. So einzigartig, daß man bezogen auf die vier Evangelien vielleicht sogar wirklich von einem fünften Evangelium sprechen kann, eben in dem Sinne, daß durch dieses „Evangelium“ die ersten vier Evangelien neue Leuchtkraft und neuen Glanz bekommen. Eine steile These. Zugegeben! Aber vielleicht können die folgenden Überlegungen ein wenig anregen, zumindest einmal darüber nachzudenken. Dabei ist der Versuch, diese These in der Form eines Artikel zu entfalten, natürlich von vornherein ein widersprüchliches Unternehmen. Denn im Grunde genommen wird hier theoretisch etwas behauptet, das sich einem erst dann richtig erschließt, wenn man sich auf dementsprechende Erfahrungen einmal selbst einläßt. Ein Artikel über Erfahrungen kann nie die Erfahrungswirklichkeit selbst ersetzen. Ich habe ihn dennoch geschrieben. In der Hoffnung, damit zumindest ein wenig Lust zu machen, sich auf das Abenteuer Heiliges Land einmal einzulassen. Freilich kann sich nicht jeder und jede den Luxus einer Israelreise leisten. Aber auch die „nur“ innerlich stattfindende Auseinandersetzung mit diesem Land stellt eine bestimmte Form von Erfahrung dar und kann ihre Früchte hervorbringen. Jedenfalls gibt es einige, die sich zuhause so engagiert und umfassend über dieses Land informiert haben, daß sie es mehr von innen kennen als viele, die einmal zwei Wochen einen Israeltrip absolviert haben und sich nun als Nahostexperten vorkommen.

Hätte Jesus seine frohe Botschaft auch in der Wüste verkündigen können? – Überlegungen zur Frage nach der Entsprechung von Landschaft und biblischer Geschichte
Ist die Landschaft, in der die biblische Geschichte spielt, eine beliebig ersetzbare Kulisse? Eine Frage, die zumindest manche Christen unbesehen mit „ja“ beantworten würden. Das Eigentliche, so höre ich sie antworten, ist die zeitlose, die ewige Botschaft des Evangeliums. Auf Gottes unveränderliches und ewiges Wort kommt es an. Alles andere ist letztlich austauschbar. Ist es das wirklich? Oft genügt schon ein einfaches Gedankenexperiment, um sich die Fragwürdigkeit dieser Behauptung bewußt zu machen. Wir müssen uns nur einmal bestimmte biblische Ereignisse auf dem Hintergrund einer ganz anderen Landschaft vorstellen.
Wie wäre es z.B., wenn Jesus von Nazareth mit seiner Frohbotschaft mitten in der Wüste aufgetreten wäre. Er spricht von der neu aufblühenden Liebe Gottes, von einer Freiheit, die alle Fesseln sprengt, von dem Wunsch Gottes, die Menschen äußerlich und innerlich zu heilen – und im Hintergrund sehen wir eine trostlose Wüstenlandschaft, spüren die heiße Sonne, die auch noch die letzten grünen Grashalme in ausgedörrtes Gerstrüpp verwandelt, und erkennen, wie in der Ferne ein paar Aasgeier über einem übel stinkenden Tierleichnam kreisen. Jesu Botschaft des überfließenden göttlichen Lebens auf dem Hintergrund der lebensfeindlichen und bedrohlichen Wüste. Eine ziemlich unmögliche Vorstellung! Die Frohbotschaft Jesu gehört in das grüne und gerade im Frühling üppig blühende Galiläa, in eine Landschaft, deren Fruchtbarkeit der jüdische Historiker Josephus in den höchsten Tönen preist. Über die Gennessar Ebene beispielsweise, die an das Hauptwirkungsfeld Jesu angrenzt, schreibt er: „Ihr Boden ist so fett, daß jede Pflanze wachsen kann, und die Bewohner haben ihn auch mit allen möglichen Arten bepflanzt, zumal das ausgezeichnete Klima zum Gedeihen der verschiedensten Gewächsarten beiträgt. Nußbäume, die am meisten der Kühle bedürfen, wachsen dort in großer Menge ebenso wie Palmen, die nur in der Hitze gedeihen; nahe bei ihnen stehen Feigen- und Ölbäume, denen eine gemäßigte Natur mehr zusagt … Der Boden bringt die verschiedensten Obstsorten nicht bloß einmal im Jahr, sondern fortwährend hervor … Zu dem milden Klima gesellt sich die Bewässerung durch eine sehr kräftige Quelle.“ (Jos Bell 3,10,8)
Umgekehrt: Können wir uns vorstellen, daß Johannes der Täufer, ein asketisch eingestellter Bußprediger, seine Botschaft radikaler Umkehr in Galiläa verkündet, womöglich noch in einem üppig bewachsenen und quellenreichen Landstrich? Kaum! Die Botschaft des Täufers gehört in die lebensfeindliche Wüste, weil er den Menschen dazu bringen will, sich rückhaltslos zu seiner äußeren und inneren Armut zu bekennen. Von Jesus erzählt das Evangelium, daß er in einer bestimmten Phase seines Lebens zur Täuferbewegung gehörte. In dieser Zeit hielt er sich wie Johannes in der Wüste auf. Doch irgendwann wurde ihm klar, daß der düstere Gerichtsernst des Johannes nicht das Erste und das Letzte ist, was es zum Thema Gott zu sagen gibt. Nein, die bedingungslose Liebe und Zuwendung Gottes sind das Entscheidende. Darauf kommt es an. Gerade jetzt. Denn die Zeit ist gekommen, wo Gott sich seinem Volk und der ganzen Menschheit in neuer und radikaler Weise zuwenden will. In dem Augenblick, wo diese Einsicht in Jesus zur vollen Reife kommt, verläßt er Johannes, wechselt den Ort und kehrt in das grüne Galiläa zurück. Neue Erkenntnisse machen diesen Ortswechsel notwendig. Es ist also nicht nur Gewöhnung von Kindesbeinen an, daß wir uns manche biblische Geschichten schlichtweg nur in einer bestimmten Landschaft vorstellen können. Es hängt nicht selten auch mit dem Inhalt der Geschichten zusammen.

Landschaft und biblische Botschaft interpretieren sich gegenseitig. Sowie uns die Erfahrung bestimmter Landschaften biblische Inhalte tiefer verstehen läßt, so können uns umgekehrt auch biblische Geschichten neu auf das Geheimnis der Schöpfung und der in ihr liegenden Symbolik hinweisen. Glaubenserfahrungen öffnen für Schöpfungserfahrungen, Schöpfungserfahrungen für Glaubenserfahrungen. Der Mensch hat nicht nur einen Leib, er ist Leib. Er ist von seinem ganzen Wesen so tief in die Natur hinein verflochten, daß es für ihn eine nur geistliche Gotteserfahrung gar nicht geben kann. In irgendeiner Weise ist das Natürliche immer das Medium des Göttlichen. Deshalb hängen Erfahrungen von Landschaft und Klima eng mit der Erfahrung Gottes und der eigenen Selbsterkenntnis zusammen. Dazu zwei Beispiele:

Wüstenerfahrungen
Wer einmal mehrere Tage in der Wüste wandert, wird bald merken, daß die Wüste kein romantisch-abenteuerliches Refugium für zivilisationskranke Europäer ist. Ihre Wirklichkeit ist weit entfernt von den beeindruckenden Bildern mancher Hollywood-Streifen. Manchmal genügen schon wenige Stunden Sonne und Durst, um einen Menschen an seine körperlichen Grenzen zu bringen. Ein paar Tage Wüste haben nicht selten zur Folge, daß infolge mangelnder Zerstreuung der ganze Morast unseres Lebens in uns hochkommt. Unsere Unerlöstheit, unsere innere Verzweiflung und Einsamkeit. Auf einmal dämmert uns dann, was hinter der Erfahrung des Psalmisten steht. Der Mensch ist in seinem Leben „wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.“ (Ps 103,15f) Erfahrungen der Grenze, Erfahrungen eigener Nichtigkeit und Ohnmacht: Wüstenerfahrungen. Aber gerade diese harten Erfahrungen, die man an sich und mit sich machen kann, können zu einem fruchtbaren Neubeginn werden, dann jedenfalls, wenn wir unsere Leere Gott hinhalten und es lernen, von ihm her Neues zu erwarten. Dann kann es tatsächlich geschehen, daß von Gott her eine neue Sinnfülle in unser Leben einbricht: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ (Ps 121,1f)
Ähnliche Erfahrungen machten die palästinischen Mönche im 4. und 5. Jh. Sie zogen scharenweise in die Wüste, um die innere Freiheit zu erfahren, die Gott uns schenken will. Sie erkannten, daß eine radikale Loslöung von gesellschaftlichen Zwängen notwendig ist, um innerlich wieder frei und froh zu werden. „Sie waren Männer, die überzeugt waren, daß ein Sich-treiben-Lassen in der passiven Hinnahme von Grundsätzen und Wertmaßstäben von dem, was sie als Gesellschaft kannten, schlechthin ein Verhängnis sei.“ (T. Merton) Sie suchten ihre Identität und ihr Selbstbewußtsein in der Liebe Gottes und waren nicht mehr länger bereit, sich im letzten von gesellschaftlichen Erwartungen, von Lob und Kritik, bestimmen zu lassen. Noch heute kann man in den Wadis die verwitterten Mauerreste ihrer Bauten entdecken, die einst die Wüste in eine bewohnte Stadt verwandelten. Übrigens gibt es auch noch heute Menschen, die diesen Weg gehen. So habe ich einmal in einem judäischen Kloster unter lauter Orientalen einen Mönch getroffen, der mir in bestem Oxford-Englisch erzählt hat: „Ich komme aus England, war früher Ingenieur, aber seit Jahren lebe ich nun hier. Das ist der Ort, wo ich erkannt habe, worum es wirklich im Leben geht.“ Äußere Wüstenerfahrungen können tief in uns etwas in Bewegung bringen. Umgekehrt können innere Wüstenerfahrungen uns veranlassen, auch wirklich in die Wüste zu gehen, um dort mit Gott und uns selbst wieder ins Reine zu kommen.

Erfahrungen der Fülle
Eine andere, ebenfalls mit der Landschaft verbundene Glaubenserfahrung kann man im üppig blühenden Galiläa machen. Ich kann mich an eine Gruppe erinnern, mit der ich durch die saftig grünen und blühenden Wiesen gewandert bin, die sich vom See Genezareth hinauf zum Berg der Seligpreisungen ziehen. Umgeben von dieser überwältigenden Fruchtbarkeit haben wir uns niedergelassen, um einige Kapitel aus der Bergpredigt zu lesen. Unter anderem die folgenden Verse: „Sorget nicht um euer Leben … Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in ihre Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. … Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen.“ (Mt 6,25ff) Ich weiß nicht, warum diese Worte, die die meisten Menschen aus dieser Gruppe schon unzählige Male gehört haben, auf einmal zu sprechen anfingen, so daß viele davon tief angerührt waren. Aber ich vermute, daß sie in der blühenden galiläischen Landschaft auf einmal etwas von dem inneren Sinn begriffen haben, der in diesen Worten steckt. Das Vertrauen, zu dem Jesus uns ermutigt, besteht ja nicht in einem völlig blinden und irrationalen Glaubensakt. Dahinter steckt eine Erkenntnis, eine Einsicht in das Geheimnis Gottes und der Schöpfung. Letztlich sagt Jesus: „Ihr irrt, wenn ihr meint, daß Leben, Wachsen und Gedeihen etwas Selbstverständliches sind. Nein, das sind sie nicht. Es sind Wunder, über die man gar nicht genug staunen kann. Würde Gott nicht jede Sekunde unzählige solcher Wunder tun, dann würde alles im nichts versinken. Die Schöpfung geschieht jeden Augenblick. Weil dieser alles erfüllende und wirkende Gott Euch von ganzem Herzen liebt, deshalb habt ihr Grund getrost zu sein. Ihr steht in direkter Verbindung zu dem innersten Zentrum der Wirklichkeit. Deshalb: Sorget nicht!“

Eines ist klar. Solche Erfahrungen macht man nur selten, wenn man im vollklimatisierten Touristenbus alles bequem an sich vorbei ziehen läßt. Manchmal muß man sich schon auf den Weg machen, die Mühen einer Wanderung auf sich nehmen. Vor allem aber braucht man Zeit. Zeit, um beispielsweise am See Genezareth einmal wirklich zu verweilen, um zur Ruhe zu kommen und die Landschaft und ihre (biblische) Botschaft mit allen Sinnen aufzunehmen. Mit einer biblischen Fastfood-Lesung am Ort des Geschehens ist es meist nicht getan.

Im Schatten des Galiläers – auf historischer Spurensuche im Lande der Bibel
Die Menschen, von deren Gotteserfahrung uns die Bibel erzählt, lebten in einem bestimmten persönlichen und gesellschaftlich-politischen Kontext. Das Wort Gottes, das diese Menschen traf oder sie an andere weitergaben, traf vor allem deshalb, weil es das Innerste ihrer Wirklichkeit berührte. Vielleicht ist das gerade das Kennzeichen des biblischen Gottes: daß er nicht über die Köpfe der Menschen hinweg spricht, sondern sie mitten in ihrer (Alltags-)Wirklichkeit ernst nimmt, mit ihren Freuden und Erfolgen genauso wie mit ihren Ängsten und Sorgen. Weil Gottes Botschaft an uns keine allgemeine Wahrheit mit einer nur geschichtlichen „Verkleidung“ ist, kommen wir nicht darum herum, die Botschaft der Bibel auf dem Hintergrund ihrer konkreten historischen Situation zu interpretieren. Das gilt für die Geschichten des Alten Testamentes genauso wie für die Evangelien. Natürlich kann man das im Prinzip auch in Deutschland tun, indem man sich in eine Bibliothek zurückzieht und sich mit archäologischen und religionsgeschichtlichen Bänden eindeckt. TheologInnen kommen darum in ihrem Studium auch gar nicht herum. Aber selbst sie merken zuweilen, daß dieses Lernen im Heiligen Land mehr Spaß macht, eher inspiriert und so letztlich wesentlich effizienter ist. Das hat seinen einfachen Grund darin, daß Lernen im Heiligen Land nicht Theorie bleiben muß, sondern aus lebendiger Erfahrung erwachsen kann. Eine umso größere Hilfe ist das Heilige Land für Nichttheologen, die mit der Gelehrtensprache der TheologInnen sowieso nur selten etwas anfangen können und deshalb für jede allgemein verständliche Konkretion dankbar sind. Wie dies konkret aussehen kann, möchte ich an einem Ausflug nach Gamla erläutern.

Jesus und die Gotteskämpfer – oder: Ist gewaltsamer Widerstand legitim?
Gamla liegt nordöstlich des Sees Genezareth. Ein schmaler, steil aufsteigender Hügelkamm, der an den Längsseiten schroff abfällt. Die Konturen erinnern an einen Kamelrücken. Deshalb wurde dieser Ort auch vom hebr. Wort für Kamel (gamal) abgeleitet. Wir, eine Gruppe von ca. dreißig Studierenden, fahren am frühen Morgen los, um noch vor der Mittagshitze den Ort besichtigen zu können. Zuerst geht es am Seeufer entlang, über den Jordan auf die Ostseite, bis sich eine Straße die Höhen des beginnenden Golan hinaufschlängelt. Nach einer kurzen Fahrt sind wir dort. Wir stehen auf dem östlich des Sees gelegenen Hochplateau und sehen, wie die Berge von einzelnen Wadis durchschnitten werden, deren Wassermassen sich in der Regenzeit zum See hin ergießen. In einem großen Tal sehen wir von einem höher liegenden Plateau aus Gamla. Diesen Ort also hatten sich die Zeloten im jüdisch-römischen Krieg zum Stützpunkt erwählt.
Die Zeloten (=Eiferer) waren fromme Juden mit einem radikal-theologischen Programm. Ihrer Überzeugung nach sind Juden nur Gott gegenüber zum Gehorsam verpflichtet. Er allein ist der rechtmäßige König Israels. Wer sich wie die römischen Herrscher an die Stelle Gottes setzt und das Gottesvolk Israel unterdrückt, muß mit der Schärfe des Schwertes bekämpft werden. Die Zeloten waren Gotteskrieger, die „im Stile von Freischärlern oder Guerillakämpfern“ (Gunneweg) die Römer in Schach hielten. Sie waren dabei durchdrungen von einer glühenden messianisch-apokalyptischen Erwartung. Bald wird Gott sein Reich für Israel aufrichten und der politischen Unterdrückung ein Ende bereiten. Aber Gott will dies eben nicht ohne menschliche Mithilfe tun. Ihre Devise war: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Am Anfang war ihre Tätigkeit regional begrenzt. Mit spontanen Überfällen aus dem Hintergrund reagierten sie auf römische Provokationen oder das, was sie als solche empfanden. Empfindliche Punkte waren z.B. die von 6.n.Chr. an direkt an den Kaiser zu zahlende Steuer in Judäa oder auch die Paganisierung des jüdischen Tempels in Jerusalem. Mit der Zeit wurde aus dem, was anfangs nur aus einzelnen Guerillaaktionen bestand, eine regelrechte Volksbewegung, die schließlich zum jüdisch-römischen Krieg (66 – 74 n.Chr.) führte und in einer großen Katastrophe für das jüdische Volk endete. Dabei waren die Massen, die den Zeloten zuliefen, wahrscheinlich weniger theologisch orientiert als die Kerngruppe selbst. Sie wurden wohl in erster Linie von dem sozial-revolutionären Programm angesprochen. Verständlich in einer Zeit, wo der Großteil der Bevölkerung an der Grenze des Existenzminimums lebte.
Gamla war nicht erst im jüdisch-römischen Krieg zelotischer Stützpunkt geworden, es war von Anfang an mit der Geschichte dieser Bewegung verbunden. Hiskia, der Stammvater der Zeloten (ca. 47 v. von Herodes hingerichtet), stammt aus Gamla. Judas, sein Sohn, den man als den eigentlichen Begründer dieser Bewegung betrachten kann, stammt aus Gamla. Sogar Eleazar ben Jair, der die Felsenfestung Massada bis zum kollektiven Selbstmord gegen die Römer verteidigte, gehört zu dieser Sippe. Er ist der Enkel des Judas. Gamla hat also eine lange Widerstandsgeschichte gegen Rom aufzuweisen, bis es zuletzt von den Römern besiegt und geschliffen wurde. Die Geschichte von Gamla endete mit einer blutigen Tragödie für die jüdischen Verteidiger.

Nachdem wir uns an einem schattigen Platz niedergelassen haben, die Ruinen von Gamla im Blick, lesen wir die dementsprechenden Passagen aus dem Jüdischen Krieg. Darin erzählt Josephus, wie die Römer die Festung nach einem ersten Fehlschlag schließlich doch noch erobern konnten. Grausame Szenen werden beschrieben: „Überall vernahm man das schreckliche Stöhnen der zu Tode Getroffenen, und das Blut, das die Abhänge herunterfloß, überschwemmte die ganze Stadt.“ Die Juden flüchten in die Oberstadt, bis schließlich auch diese von den Römern genommen wird. Viele stürzen von römischen Pfeilen getroffen die steilen Abhänge hinunter, andere begehen in ihrer Verzweiflung Selbstmord. Noch heute stehen einem die Spuren dieses grausamen Kampfes vor Augen: zerstörte Häuser und Geröllmassen, die die steilen Täler bedecken. Gamla vor Augen, Josephus im Ohr, beides zusammen läßt ein düsteres Kapitel jüdischer Geschichte lebendig werden.
Auf dem Weg zurück zum Bus dringen verschiedene Gesprächsfetzen an mein Ohr. Einer sagt: „Im Grunde genommen haben die radikal-jüdischen Siedler in der Westbank eine ganz ähnliche Einstellung. Fromme Fanatiker, die meinen, daß sie mit Berufung auf den Gott Israels Palästinensern das Land wegnehmen dürfen. Interessant auch, daß sie genauso messianisch-apokalyptisch orientiert sind wie die Zeloten damals. Die Zeloten waren der Überzeugung, daß Gott bald sein Reich aufrichten und die Römer aus dem Land vertreiben wird. Die heutigen Siedlerzeloten meinen ebenfalls, daß die Geschichte einen heilsgeschichtlich-messianischen Wendepunkt erreicht hat. Die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948, die Einwanderung der Juden, sind das nicht Erfüllungen biblischer Prophetie? Zeichen dafür, daß die letzte messianische Erfüllung nicht mehr lange auf sich warten läßt? Also muß man anpacken, mithelfen, daß Gott um so schneller ans Ziel kommt. In einer solchen Situation verheißenes biblisches Land hergeben? Unmöglich! – Schlimm, wenn Religion politisch derart mißbraucht wird.“ Darauf seine Begleiterin: „Du hast schon recht. An diesem Vergleich ist einiges dran. Aber eines regt mich auf: deine politische Einseitigkeit. Tu doch bitte nicht immer so, wie wenn alle Israelis Siedler wären, die nichts anderes im Sinn haben, als auf den nächsten Palästinenser loszugehen. Immerhin gibt es auch eine Friedensbewegung. Vor einiger Zeit habe ich übrigens gehört, daß es darunter sogar eine religiös motivierte Gruppe gibt: Oz we Shalom – Stärke und Friede. Die lehnen die inhumane Siedlerpraxis ab, weil für sie das Gebot ‚Leben zu bewahren‘ das höchste jüdische Gebot ist, wichtiger als der Besitz von ‚jüdischem Kernland‘.“ Die Argumente gehen noch einige Zeit hin und her. Schließlich kehrt Stille ein. Gedankenversunken schlendern die beiden zum Bus zurück. Man merkt, wie sie weiter an diesen Fragen herumdenken. Eine für das Heilige Land typische Szene. Man beschäftigt sich mit einem Stück uralter jüdischer Geschichte, und plötzlich merkt man, wie man mitten in der Gegenwart ist. Mir fällt dazu die Äußerung des amerikanischen Rabbiners A. Hertzberg ein, der die Zeit vor 70.n.Chr. tatsächlich mit den heutigen innerisraelischen Auseinandersetzungen vergleicht: „In diesen vier Jahren vor der Tempelzerstörung ermordeten die Zeloten die Gemäßigten … Wenn sich heute jemand in ein messianisches Denken hineinbegibt, dann befindet er sich auf einem feindlichen Pol gegenüber dem demokratischen Denken … Ich teile die messianischen Erwartungen verschiedener orthodoxer und chassidischer Kreise nicht. Wenn ein Messias zu kommen hätte, dann hätte er in die nazistischen Todeslager kommen müssen. Ein Messias, der nicht in Auschwitz war, hat auch im Eastern Parkway (gemeint ist das Haus des Lubawitscher Rebben) und der West Bank nichts zu suchen. Unsere Politik kann sich nur auf menschliche Vernunft stützen.“

Wir fahren den Weg, den wir hergekommen sind, wieder ein Stück zurück. Unser nächster Halt ist Bethsaida am See Genezareth. Eine Stadt, in der Jesus gewirkt hat und wo man erst kürzlich mit Ausgrabungen begann. An einem schattigen Plätzchen, nach einer Mittagspause ist eine Bibelarbeit eingeplant. Thema: Jesus und die Zeloten. „Wußten Ihr schon“, sagt der Leiter dieser Einheit, „daß Simon Petrus und Andreas nach der Überlieferung des Johannesevangeliums aus Bethsaida stammen.“ Dann zeigt er nach Osten, wo man in der Ferne den Kamelrücken von Gamla erkennen kann. „Wenn Simon und Andreas hier lebten, dann mußte für sie das Treiben der Zeloten tägliches Gesprächsthema sein. Wahrscheinlich spielten solche Themen auch im Jüngerkreis Jesu eine nicht unwichtige Rolle. Darf man Lukas glauben, dann gehörte zu den Jüngern Jesu sogar ein ehemaliger Zelot (Lk 6,15)“. Viele werden neugierig. Wie war das eigentlich? Hat Jesus irgendetwas zum Thema Zeloten gesagt?
Daraufhin werden mehrere ntl. Passagen ins Gespräch gebracht. Man diskutiert über die Frage, ob Jesus dafür war, dem Kaiser Steuern zu zahlen (Mk 12,13-17). Man debattierte über die messianische Erwartung Jesu – ob Jesus meinte, das Ende herbeizwingen zu können (Mk 4,26-29) -, bis man schließlich bei Jesu Worten über die Vergeltung landet. Einer liest aus der Bergpredigt vor: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir einen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“ Einem der Zuhörer fällt ein, was er einmal dazu gelesen hat: „Damals durfte ein römischer Legionär irgendeinen Juden, den er am Straßenrand sah, dazu zwingen, sein Gepäck eine Meile zu schleppen. Jesus sagt: Nicht nur eine Meile, zwei Meilen sollst du es tragen. Schon eine ziemlich andere Haltung als die der Zeloten. Keine Spur von gewaltsamen Widerstand.“ Ist das Christentum also doch eine Religion der Schwachen, so wie es Nietsche den Christen vorgeworfen hat? Eine Religion, die sich mit den gegenwärtigen Unrechtszuständen einfach abfindet? In der Diskussion merken wir allerdings, daß Jesus auch eine Art von Widerstand fordert. Wer nur eine Meile geht, beugt sich dem Zwang der Unterdrücker ohne wenn und aber. Wer zwei Meilen geht, der zeigt, daß er auch in der Situation der Besatzung noch die Möglichkeit hat, frei zu handeln. Man kann auch ungehorsam sein, indem man mehr tut als das, was gefordert ist. Menschen, die so handeln, haben noch Würde und Rückrad. In der Antike war es für Mächtige und Philosophen durchaus ein Ideal, auf die Durchsetzung des eigenen Rechtes zu verzichten. Wenn Jesus eine solche Haltung von den kleinen Leuten fordert, behandelt er sie dann nicht letzten Endes als Könige und gibt ihnen damit ihre ihnen von Gott geschenkte Würde zurück? Ist das nicht überhaupt des Pudels Kern? Jesus läßt Menschen die Liebe Gottes erfahren, er macht sie dadurch innerlich stark und frei. Diese innere Freiheit von Haß und Vergeltung macht kreativ und ermöglicht es, neue Formen des Widerstandes zu finden. Martin Luther King und Mahatma Gandi werden ins Gespräch gebracht. Ein anderer macht sich Gedanken über die Machthaber. Seine These: Auch sie können dadurch befreit werden. Vielleicht spüren sie durch Menschen wie Jesus instinktiv, daß innere Stärke wichtiger ist als die ganze äußere Macht, die sich im Laufe der Zeit angeeignet haben.
Das Gespräch ging noch lange weiter, auf der Heimfahrt und beim Abendessen. Ich kenne solche spannenden Gespräche auch aus Deutschland. Aber selten habe ich sie so häufig und so intensiv erlebt wie in diesem Land. Hier ist Lernen eben doch mehr als Theorie, das konkrete Erleben bringt viel in Bewegung.

Was kann aus Nazareth Gutes kommen? – Glaubenszweifel und Pilgerreisen
Viele Menschen kommen mit religiösen Fragen und Zweifeln ins Heilige Land. Bei Christen haben diese Fragen dabei nicht selten mit der Person Jesu zu tun. Nathanael, der im Evangelium von einem begeisterten Jesusanhänger auf den Mann aus Nazareth hin angesprochen wird, bringt zuerst nichts als den skeptischen Satz heraus: Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen? Nazareth war damals anscheinend wirklich nur ein kleines und unbedeutendes Kaff. Heute fragen viele Menschen: Kann es wirklich wahr sein, daß der Schöpfer dieser Welt uns in diesem Juden, der im 1. Jh. lebte, seine ganze Wahrheit und sein ganzes Wesen offenbart hat? Ist das nicht vermessen angesichts der Vielfalt der Religionen? Es ist in all dem die uralte Frage nach dem letzten Geheimnis des Nazareners, die viele bewegt. Die traditionellen theologischen Antworten werden dabei längst nicht mehr unhinterfragt hingenommen. Manchen erscheinen sie intellektuell unverdaulich, gar grotesk, für andere sind sie einfach viel zu weit entfernt von ihrer eigenen Lebenswirklichkeit. Ein gutes Beispiel dafür ist die als Problem empfundene „Göttlichkeit Jesu“. Viele fragen, ob man denn als Christ wirklich glauben müsse, daß dieser eine Mensch Gott war. Wie verträgt sich ein solcher Glaube mit dem Menschsein Jesu, das für Christen doch anscheinend auch eine Rolle spielt? Ist das Menschsein nur äußere Verkleidung? Und wenn ja, kann man Jesus dann noch guten Gewissens als wirklichen Menschen begreifen? Ist er dann nicht eher ein über die Erde wandelnder Gott, wofür es in den Mythologien der Völker unzählige Beispiele gibt?
Leichter zugänglich sind für viele da schon die Antworten, die in Jesus den exemplarischen Menschen sehen. Jesus, das Urbild von Liebe und Gerechtigkeit. Jesus, der Sozialrevolutionär. Jesus, der Heiler und Therapeut. Jesus, der neue Mann. In all dem: Jesus als Ur- und Vorbild unseres Menschsein. Der Mensch, wie er von Gott eigentlich gedacht ist. Aber auch bei solchen Ansätzen stellen sich schwierige Fragen. Woher hatte dieser eine die Kraft, ein solches Menschsein zu leben. Hat er dies durch innere und äußere Anstrengung erreicht? Oder durch göttliche Gnade? Wieder sind wir bei der Frage, ob Jesus nicht doch eine ganz besondere Gottesbeziehung hatte, und wenn ja, wie diese dann zu fassen und zu beschreiben ist. Es geht in all dem nicht nur um müßige intellektuelle Spekulationen, letztlich geht es um die sehr existentielle Frage, was ich mir für mein Leben von diesem Menschen erwarten darf?
Manche führen diese oder ähnliche Fragen bereits im Reisegepäck mit sich, wenn sie nach Israel kommen. Bei anderen werden sie erst im Heiligen Land geweckt, das in diesem Sinne durchaus auch eine entmythologisierende Wirkung haben kann. Der Jesus, den viele von den heimischen Gottesdiensten, dem Religionsunterricht und der eigenen religiösen Biographie her kennen, ist ja nicht selten in eine Atmosphäre der Heiligkeit getaucht. Er hat etwas Sakrales und Schwebendes an sich und wirkt in dieser Welt wie ein eigenartiger Fremdkörper. Ist man nun als Pilger oder Tourist in Galiläa oder Jerusalem unterwegs, kann es geschehen, daß der Heiligenschein auf einmal verblaßt und es einem wie Schuppen von den Augen fällt: Dieser Jesus war tatsächlich einer von uns. Ganz real zog er mit seinen JüngerInnen durch dieses Land. Wie wir hat er gegessen und getrunken, war er an manchen Tagen müde und abgekämpft, an anderen sprühend und lebendig. Er hat gelacht und geweint. Er hatte wirkliches Blut in seinen Adern. Er war so sehr Mensch, daß er sich äußerlich wahrscheinlich gar nicht viel von dem braungebrannten sephardischen Juden unterschied, der gerade vor mir in den Bus steigt.

Der menschliche Jesus
Die Frage ist nun, ob das Heilige Land die angesprochenen Glaubensprobleme nur verstärkt bzw. sie erst richtig hervorruft, oder ob es auch ein Heilmittel dagegen anzubieten hat. Zuerst einmal: Ich denke, man sollte die Einsicht in die reale Menschlichkeit Jesu, die mit diesem Land von vorneherein eher gegeben ist, positiv aufnehmen, aber gleichzeitig deutlich machen, daß man dies nicht als Bedrohung empfinden muß. Jesus in der Fülle seiner Menschlichkeit zu entdecken, ist ein ungeheuerer Reichtum. Auf diese Weise kann uns der Mann aus Nazareth in vielem näher kommen. Dazu einige Beispiele:
Wenn ich in der Wüste über Jesus und sein Verhältnis zu Johannes dem Täufer meditiere, dann kann mir daran aufgehen, daß auch Jesus einen Entwicklungsprozeß durchgemacht hat. Warum war er denn zuerst ein Teil der Täuferbewegung, hat sich dann später aber davon abgesetzt? Irgendetwas muß doch da in ihm vorgegangen sein. Wenn aber sogar Jesus Lern- und Erkenntnisprozesse durchgemacht hat, also auch er nicht von Anfang an fertig war, dann ermutigt mich dies, solche Prozesse in meinem Leben zu bejahen und mich bewußt darauf einzulassen. Ja nicht nur das, ich darf auch darauf vertrauen, daß der Gott, dessen Gegenwart Jesus erfahren hat, auch mich inmitten aller menschlichen Lernprozesse begleiten und führen will. Ein anderes Beispiel: Wenn ich in Nazareth über die Familie Jesu nachdenke, kann mir bewußt werden, daß auch Jesus Probleme mit seiner Familie hatte. Die „heilige Familie“ ist zwar ein schönes Motiv für kitschige Weihnachtskarten, paßt aber kaum zur historischen Realität. Jedenfalls zeigt uns Markus (3,21), daß „die Seinen“ ihn zumindest zeitweise für durchgedreht erklärten. Die Familie Jesu tat sich anscheinend sehr schwer damit, daß es in ihrem Kreis einen solch religiösen Sonderling gab. Umgekehrt mußte Jesus gegen alle familiären Widerstände lernen, seinen und Gottes Weg zu gehen. Sind das nicht tröstende und ermutigende Perspektiven, wenn wir in bestimmten Phasen kritisch über unsere eigene Familiensituation nachdenken? Nirgends wird diese Menschlichkeit Jesu aber vielleicht so bewußt wie in Jerusalem. Dort, wo Jesus die tiefsten Tiefen des Menschsein durchgemacht hat, ist auch am ehesten Raum für unsere eigenen Erfahrungen von Leid und Dunkelheit. Da sehe ich Jesus verlassen von seinen Jüngern, abgelehnt von der religiösen Elite, im Gebetskampf mit seinem Gott. Die biblische Überlieferung zeigt noch deutlich genug, welche Kämpfe damals in Jesus getobt haben. Es wäre sicher nur ein kleines gewesen, die Menschen um ihrer Bosheit willen endgültig zu verfluchen. Als Versuchung stand Jesus diese Möglichkeit sicher vor Augen. Ebenso wäre es nur ein winziger Schritt gewesen, Gott endgültig abzuschwören, diesem Gott, der nicht bereit ist, Jesus vor der Dunkelheit des Kreuzes zu retten. Aber trotz allem Schmerz gibt Jesus Gott und Menschen nicht preis. Wir hören Klagen und jammervolle Töne, Verfluchungen hören wir nicht.
Meine Erfahrung ist, daß dieser menschliche Zugang zu Jesus, der sich gerade im Heiligen Land anbietet, für viele unserer heutigen ZeitgenossInnen ungeheuer befreiend ist. Auf einmal ist Jesus nicht nur in der theologisch-dogmatischen Theorie der Menschgewordene, sondern er ist es in der Praxis. Wie wir hat er Entwicklungsprozesse durchgemacht, mußte er kämpfen und ringen, wurde ihm nichts geschenkt. Sein Menschsein war keine billige Verkleidung. Es war echt. Wo dies erkannt wird, dort begegnet uns Jesus im wahrsten Sinn des Wortes auf unsere Ebene. Dort kann er als uns nahe und vertraut empfunden werden. Erst dort kann er auch unser Herr und Meister werden. Denn nur ein Jesus, der alles Menschliche durchgemacht hat, hat das nötige Potential, um uns Menschen ein guter Seelsorger zu sein. So ermutigt diese Einsicht dazu, die eigene Lebensgeschichte in die seine hineinlesen, um sie von dort her neu und besser zu verstehen. Auf einmal werden die Evangelienerzählungen höchst aktuell: sie zeigen mir in ihm neue Möglichkeiten meines Menschseins – meines von Gott gewollten Menschseins.

Die Göttlichkeit Jesu
Das Eigenartige in diesem Prozeß besteht darin, daß die Erkenntnis der Menschlichkeit Jesu auch seine Göttlichkeit auf neue Weise entdecken läßt. Nur ist diese Göttlichkeit auf einmal nichts mehr, was dem Menschsein Jesu diametral entgegengesetzt ist, sondern etwas, was gerade mitten in seinem Menschsein aufleuchtet. Auch die Evangelien lassen einerseits erkennen, daß Jesus gestritten, gekämpft, gezweifelt und gerungen hat, andererseits jedoch weisen sie unablässig darauf hin, daß in ihm die Gottesgewißheit, das Bewußtsein, daß der liebende Gott auf seiner Seite steht, immer wieder gesiegt hat. Weil Jesus aus der Gewißheit der göttlichen Liebe heraus lebte, konnte er stark sein, konnte er gegen alle äußeren und inneren Widerstände seinen Weg gehen, war er letztlich nicht abhängig vom Lob oder der Kritik der Menschen. Egal, ob wir an die teuflischen Versuchungen in der Wüste denken oder die letzte große Anfechtung auf Golgotha, diese Gewißheit gab ihm die Kraft, den Anfechtungen zu widerstehen und den Weg Gottes treu zu gehen. Sie gab ihm auch die Stärke, an der Liebe Gottes zu uns Menschen festzuhalten. Das letzte Geheimnis seines Lebens liegt in seiner einzigartigen und intimen Gottesbeziehung. Diese verlieh ihm eine wahrhaft königliche Souveränität.

Das Heilige Land vertieft die Einsicht in die Menschlichkeit Jesu. Gerade dadurch weist es aber auch auf das göttliche Geheimnis hin, aus dem heraus der Nazarener gelebt hat. Es ist zuzugeben, daß damit noch lange nicht alle Fragen geklärt sind. Mit all dem ist vor allem weder Gott noch Jesus „auf den Begriff“ gebracht. Theoretisch also ein völlig unzureichendes Unternehmen. Dennoch erfassen Menschen, die die oben angesprochenen Erfahrungen gemacht haben, wieder ein wenig von dem, was gemeint sein könnte, wenn das christliche Bekenntnis von der wahren Menschlichkeit und der wahren Göttlichkeit Jesu spricht. Sie merken vor allem, daß dies etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun hat. Denn je mehr sie sich in die Lebensgeschichte Jesu verwickeln lassen, desto mehr stoßen sie auch auf das göttliche Geheimnis Jesu, desto merken sie, daß das Geheimnis der in Jesus erfahrbaren göttlichen Liebe auch uns heute noch heilen kann.

Ist das Heilige Land nun also doch heilig?
Daß das Heilige Land für die Bibel eine wichtige Verständnis- und Erschließungshilfe ist, liegt auf der Hand. Gerade in dem zuletzt Gesagten tritt nun aber noch etwas anderes zutage, etwas, das das Heilige Land in gewisser Weise unaustauschbar macht. Es geht im christlichen Glauben ja nicht nur um das Wissen, daß Gott im Tiefsten seines Wesens Liebe ist. Zumindest Andeutungen, wenn nicht sogar mehr, finden wir auch in vielen anderen Religionen. Es geht darum, daß Gott mit dieser Liebe ernst gemacht hat, daß er real und konkret in einem Menschen zu uns kam, daß der Brückenschlag von Gott zum Menschen vollzogen wurde, nicht nur im Mythos und im theologischen Gedanken, sondern in der konkreten Wirklichkeit unserer Welt. Weil Christen glauben, daß dies vor 2000 Jahren in dem Mann aus Nazareth geschah, hat für sie das Heilige Land bleibende Bedeutung. Nicht so, daß diesem Land eine besondere Qualität „dinglicher“ Heiligkeit zukommt, aber so, daß es unentbehrlich ist als Erinnerungshilfe für das konkrete und einmalige Heilsgeschehen, das dort stattfand. Nicht von irgendwo, sondern von Jerusalem ging das Evangelium in die ganze Welt und ist nun freilich auch überall in dieser Welt lebbar. Aber die ganze Universalität des Christentums wurzelt in der Partikularität eines konkreten Menschenlebens, das vor 2000 Jahren gelebt wurde.

Daß ein Ereignis, das im hintersten Winkel der Welt geschah, Weltbedeutung haben soll, macht christlichen Glauben so anstößig. Es kränkt den Stolz des Menschen, daß die Wahrheit nicht überall verfügbar ist, sondern gleichsam von außen, von einem konkreten Ort und Geschehen her auf ihn zukommen muß. Deshalb vergißt man auch an theologischen Fakultäten nur allzugerne den historischen Ursprungsort des christlichen Glaubens, um sich lieber in allgemeine Gedanken über Gott und die Welt zu ergehen. Damit hat man freilich auch nicht mehr im Blick, wie revolutionär und konkret Gottes Liebe zu uns ist. Vielleicht sollte man sich daran gerade im Jahr 2000 durch eine Pilgerfahrt ins Heilige Land erinnern lassen. Die orientalischen Kirchen können uns dabei helfen. Denn sie, die von Anfang an Niederlassungen und Kirchen in Jerusalem hatten, haben mehr von dieser heilsgeschichtlichen Bedeutung des Heiligen Landes verstanden als wir westlichen Christen. Sie wissen, daß hier und nirgends anders die historischen Spuren dessen zu entdecken sind, der sich aufgemacht hat, um uns Menschen zu heilen.

Peter Hirschberg

Kommentarfunktion für diesen Artikel geschlossen.

Aktuelles

31. Januar 2022

Jesu Weg und unser Weg - eine Pilger- und Wanderreise auf Jesu Spuren

Sie fahren gerne im klimatisierten Reisebus durch exotische Länder, um nur ab und zu für genau getaktete Besichtigungen auszusteigen? Sie finden es zu anstrengend, sich auch mal selbst auf den Weg zu machen, um im Gehen die Landschaft wirklich unter die Füße zu bekommen und neue Erfahrungen zu machen? Sie wollen alles sehen, was zu sehen ist, auch wenn Sie dabei kaum noch aufnahmefähig sind? Sie interessieren sich für Religion und Theologie, aber haben kein so großes Interesse daran, über Glaubensfragen mit sich selbst oder anderen Menschen ins Gespräch zu kommen? … Wenn das so ist, dann würde ich Ihnen von meiner Pilgerreise nach Israel/Palästina dringend abraten. Im anderen Fall kucken Sie sich mein Angebot gerne mal an …

weiterlesen
5. April 2021

„Das Café am Rande der Welt“ und die Geschichte von den Emmausjüngern

Gestern habe ich ein kleines Büchlein gelesen: „Das Café am Rande der Welt“, von John Strelecky. Ein Bestseller! Deutsche Erstausgabe: 2007. Ich halte die 54. Auflage aus dem letzten Jahr in der Hand. Beachtlich! Wieder mal ein Bestseller, den ich relativ spät gelesen habe.

Wie auch immer. Ich fand das Buch anregend. Nicht so sehr wegen seines Inhalts. Den habe ich einfach schon zu oft gehört und gelesen in der immer inflationärer werdenden Lebensratgeber-Literatur. Er heißt auf den Punkt gebracht: „Lebe dein Leben, und zwar jetzt – und lass dich nicht für blöd verkaufen von denen, die dir durch ihre oft materiellen Glücksverheißungen das Blaue vom Himmel versprechen.“ In diesem Buch wird übrigens sogar ein Kürzel für den Sinn des Lebens gefunden, und das heißt: „ZDE“ = „Zweck der Existenz“. Diesen ganz individuellen „ZDE“ gilt es zu finden und zu leben. Irgendwie natürlich alles richtig, aber auch ein wenig banal, vor allem: wenn das bloß immer so einfach wäre. Viktor Frankl, der bekannte Psychotherapeut aus Österreich, hat sich dieser Aufgabe übrigens schon vor längerer Zeit auf etwas höherem Niveau gestellt. Er nannte das Logotherapie. Eine Therapie, die den Menschen individuell helfen soll, ihren spezifischen Lebenssinn zu finden, also das, wofür sie da sind. Was wiederum eine der drei Fragen ist, mit denen der Besucher dieses eigenartigen Cafés auf der Speisekarte konkfrontiert wird: „Wozu bin ich da?“ Aber lassen wir das! Wie gesagt, was mir gefallen hat, ist weniger der Inhalt. Es ist vor allem die Rahmengeschichte, und die ist folgendermaßen konstruiert:

weiterlesen
13. März 2021

Wie Corona unsere Gesellschaft verändert

Ich erinnere mich noch an die Zeit vor einem Jahr. Frühling 2020! Damals war Corona für uns alle noch Neuland. Neben allem Schlimmen, das wir erlebten und wovor wir Angst hatten, gab es auch einen leisen Optimismus. Viele hofften, dass durch die Pandemie auch Positives in Gang kommen würde. Covid-19 galt als Augenöffner. Der „Brennglaseffekt“ war in aller Munde. Bernd Ulrich schrieb in der Zeit (20.05.):
„Corona ist nicht die Mutter aller Krisen, noch weniger stellt sie die größte Gefahr für die Menschheit dar (das ist und bleibt das ölologische Desaster, das sich mit wachsendem Tempo vollzieht), Corona ist aber vielleicht die aufklärerischste Krise, weil sie die Welt so verlangsamt hat, dass man ihre Bewegungsgesetze besser verstehen kann.“

weiterlesen