Schöpfung als Prozess

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn man im theologischen Sinn an Schöpfung denkt, dann vermute ich, dass viele Menschen an einen Akt in grauer Vorzeit denken. Stichwort: Zahlenstrahl! Schöpfung ist das, was irgendwann einmal geschah, damit es so etwas wie unsere Welt samt uns Menschen geben kann. In mittelalterlichen Zeiten hätte man sich das so vorgestellt, wie es die Schöpfungsgeschichten der Bibel erzählen. Ein wissenschaftlich gebildeter gläubiger Mensch heute dagegen würde vielleicht sagen: Ja, Gott hat die Welt geschaffen, daran glaube ich, aber wie er das nun genau getan hat, das wissen wir nicht, das wissen auch die biblischen Texte nicht, die vom Weltbild ihrer Zeit geprägt sind. Jedenfalls spricht nichts dagegen, hier auf dem neusten wissenschaftlichen Stand zu bleiben und davon auszugehen, dass Gott die Anfangsbedingungen geschaffen hat, die den Urknall ermöglichten, was dann zu einer grandiosen kosmologischen und biologischen Evolution führte. Aber auch er denkt, wenn er so denkt, bei Schöpfung in erster Linie an ein „Ereignis“ in der Vergangenheit, also an den Punkt, wo alles begann.

Dieses sehr geläufige Denken – bei Schöpfung geht es um ein „Ereignis“ der Vergangenheit – möchte ich heute Abend von der Bibel her hinterfragen. Ich will nicht verneinen, dass es in den biblischen Schöpfungszeugnissen auch um den ursprünglichen Schöpfungsakt geht, ich will aber deutlich machen, dass Schöpfung nach biblischem Zeugnis etwas ist, das zwar irgendwann begann, das aber noch lange nicht zu Ende ist, sodass wir uns im Grunde genommen noch inmitten des Schöpfungsprozesses befinden. Schöpfung als Prozess!

Vielleicht ahnen Sie schon jetzt ein wenig, dass ein solches Denken ganz neue Chancen und auch ganz neue Fragen in sich birgt. Ich deute das nur ein klein wenig an, um dann im Laufe bzw. am Ende meines Vortrags genauer darauf einzugehen:
Wenn der Schöpfungsprozess noch nicht abgeschlossen ist, wenn wir da noch mittendrin sind, dann bedeutet dies, dass Gott immer noch am Wirken ist, und zwar in allem: in den Kräften der Materie, in den Kräften der Biologie und natürlich auch in uns Menschen. Gott ist und wirkt in allem! Kurzum: Dieser Kosmos ist nicht gottlos, sondern mit Gott gesättigt. Andererseits bedeutet Schöpfung, dass Gott etwas Eigenständiges geschaffen hat, etwas, das eine eigene Entwicklungsdynamik hat, eine Wirklichkeit, die ihm sogar widersprechen, ja die ihn leugnen kann. Auf den Punkt gebracht: Gott wirkt, wir aber wirken auch. Kann beides zusammengehen? Schafft es Gott, uns so in seine Ziele einzubinden, dass am Ende alles gut wird? Und wenn ja: Wie schafft er das? Durch Überzeugung und Werben? Oder so, dass er am Ende, wenn alles nichts fruchtet, er seine Ziele dann doch mit Gewalt durchsetzt? Oder ist es ganz anders? Hat Gott der Schöpfung und uns Menschen so viel Macht gegeben, dass wir Gottes Schöpfungsziele vielleicht sogar verhindern können, dass am Ende also nicht die erlöste Schöpfung steht, sondern eine atomare Selbstzerstörung? Mit anderen Worten: Kann das Abenteuer Schöpfung auch in einem Desaster enden? Hans Jonas, der große jüdische Philosoph, hat in eine solche Richtung gedacht.

Vielleicht merken Sie, dass die hier gestellte Frage alles andere als eine rein akademische Frage ist, sondern dass es hier tatsächlich um etwas geht, nämlich um zutiefst existentielle, ja bedrängende Fragen. Vielleicht merken Sie aber auch, dass man mit den Naturwissenschaften eher ins Gespräch kommen kann, wenn man Schöpfung als Prozess versteht. Freilich: Sie werden auch sofort gespürt haben, dass es hier um äußerst schwierige Fragen geht. Ich werde ihnen deshalb auch keine in jeder Hinsicht befriedigende Antworten geben können, aber was ich schon möchte ist Folgendes: einen gewissen Rahmen skizzieren, in dessen Bereich sich unser Denken bewegen sollte, jedenfalls dann, wenn die biblischen Zeugnisse für uns eine Autorität haben. Mein Ziel ist, bestimmte Extreme auszuscheiden, um einen Raum zu eröffnen, in dem wir bleiben sollten, wenn wir beim Gott der Bibel bleiben wollen.

Aber damit genug der Vorrede: Warum ist Schöpfung, wie ich es behaupte, nach der Bibel ein Prozess? Ich beginne bei den biblischen Schöpfungserzählungen:

1) Die Schöpfungsgeschichten der Genesis als visionäre Erzählungen

In den ersten Kapiteln der Bibel haben wir zwei Schöpfungserzählungen aus unterschiedlichen Quellen: Gen 1-2,4a, das ist die berühmte Erzählung, wie Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat. Sie stammt aus der Priesterschrift, einer Pentateuchquelle, die im 6. Jh. entstanden ist (babylonisches Exil). Die zweite Schöpfungserzählung, wo Adam und Eva und die Vertreibung aus dem Paradies im Vordergrund stehen, ist anderen Ursprungs (ich formuliere so vage, weil dies heute sehr kontrovers diskutiert wird), ist vermutlich aber nicht viel älter, was man früher einmal gedacht hatte. Ich gehe auf beide ein, aber nur auf die Frage bezogen, wo sich da in die Zukunft weisende Elemente finden, also Elemente, die bezeugen, dass tatsächlich an so etwas wie einen Schöpfungsprozess gedacht ist.
Priesterlicher Schöpfungsbericht: Im ersten Schöpfungsbericht wird davon gesprochen, dass Gott am siebten Tag die Menschen geschaffen hat: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei“ (1,26), und ein wenig später heißt es: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische … (usw.).“ Was also ist der Mensch? Wer oder wie soll er sein? Was ist seine Bestimmung? Antwort: Er soll ein Bild Gottes sein! Hier steht im Hebräischen zelem, und das heißt übersetzt so viel wie Statue, oft auch Götterstatue. Eine Götterstatue galt im Alten Orient als Repräsentation Gottes. Deshalb darf man sie auch verehren, da in ihr die Gottheit geheimnisvoll gegenwärtig ist. Auch der Pharao galt als zelem, als lebendige „Götterstatue“ soll er Gott auf Erden repräsentieren. Wenn nun der Mensch zelem genannt wird, dann ist klar, worum es geht. Wie ein Diplomat im fremden Land seine Regierung vertritt und im Sinne der Regierung handeln soll, so soll der Mensch Gott und seine Wirklichkeit auf Erden repräsentieren. Das Revolutionäre in der Bibel ist, dass dies nicht nur als Aufgabe eines Menschen gedacht wird, des Königs oder Pharaos, sondern als Aufgabe aller Menschen. Es handelt sich hier um eine Art Demokratisierung.

Wer aber ist Gott? Wie kann man in seinem Auftrag leben und handeln? Gott ist ein leidenschaftlicher Freund des Lebens. Das wird an den vorhergehenden Tagen sehr schön deutlich, wo Gott inmitten des unmenschlichen Chaos eine Art Lebenshaus erschafft. Er stellt in Raum und Zeit ein Gehäuse her, in dem sich Leben entfalten kann. Interessant übrigens: Auch hier wird die Schöpfung bereits in den Schöpfungsprozess mit einbezogen, wenn z.B. in Vers 11 oder 20 die Erde dazu aufgefordert wird Pflanzen bzw. lebendige Tiere hervorzubringen. Immer wieder kommt dann die Formel: Es war gut! D.h. Gott ist ein Freund des Lebens, und der Mensch lebt dann nach Gottes Bestimmung, wenn er sich für das Leben einsetzt. Albert Schweizer hat gesagt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Man könnte deshalb durchaus im Sinne Albert Schweitzers sagen, dass nach der Bibel der Mensch ein wahrhaft menschlicher Mensch ist, der aus Liebe zum Leben das Leben fördert.“ [Ethische Implikation] Übrigens: Wenn dann später gesagt wird, der Mensch solle „herrschen“, dann ist das kein wirklicher Widerspruch, denn dahinter steckt das hebräische radah, und das stammt aus der Hirtensprache und meint eigentlich „sich verantwortlich um die Herde zu kümmern“. Das zweite Wort „untertan machen“ (kabas) deutet zwar auf Eroberung hin, aber auch es beinhaltet den Fürsorgeaspekt. Ich glaube, das sind wichtige Hinweise für unsere heutige Praxis. Es ist gut, dass wir in der Kirche entdeckt haben, dass Tiere und Pflanzen unsere Mitgeschöpfe sind, dass wir also nicht zu hoch von uns denken, aber es wäre völlig falsch, an der Sonderstellung des Menschen zu zweifeln. Wir haben als selbstbewusste Wesen eine Sonderstellung, wir haben Macht, aber diese sollen wir eben für das Leben einsetzen. Das ist die mitschöpferische Qualität, die Gott uns gegeben hat.

Nun wissen die Autoren der Priesterschrift, die uns all dies Positive erzählen, allerdings sehr deutlich, dass der Mensch nicht so ist, wie er sein soll. Deshalb erzählen sie uns die Geschichte von der Sintflut. Diese Geschichte soll zeigen, dass das Böse so über Hand genommen hat, dass es dafür dringend eine Lösung braucht, wenn nicht alles den Bach hinuntergehen soll. Gen 6,12: „Da sah Gott auf die Erde, und siehe, sie war verderbt; denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden.“ Die Sintflut freilich, die dann erzählt wird, ist anscheinend für die Autoren keine Lösung. Denn nach der Sintflut hängt Gott seinen Kriegsbogen in die Wolken, verwandelt ihn in einen Regenbogen, wodurch deutlich wird: Gewalt ist kein adäquates Mittel, um das Böse auszurotten, zumal Noah und seine Nachkommen ja auch wieder sündigten. Die Sintflutgeschichte ist also eher eine Anti-Sintflutgeschichte!

Was aber ist dann vonnöten, wenn der Mensch so werden soll, wie er eigentlich von Gott gedacht ist? Hier ist nun zu bedenken, dass nach der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte die Krone der Schöpfung nicht der Mensch, sondern der siebte Tag ist. Aber wie kann das sein? Ein Tag als Krone der Schöpfung? Das Besondere an diesem Tag ist zuerst einmal, dass Gott an ihm ruht. Des Weiteren heiligt und segnet Gott ihn, gibt ihm also eine besondere Würde. Worauf zielen all diese geheimnisvollen Andeutungen? In ihrem Zentrum zielen sie auf die Ruhe. Ruhe ist im Hebräischen (menucha) aber nicht einfach Ruhe, sondern meint eigentlich das, was wir mit Harmonie umschreiben würden: die Harmonie des Menschen im Verhältnis zu Gott, sich selbst und der Schöpfung. Genau diese Harmonie gibt es aber noch nicht. Die einzig mögliche Folge: Der 7. Tag steht symbolisch für die Vollendung der Schöpfung, für eine Vollendung, die auch nach der Priesterschrift noch nicht da ist. Jüdische Ausleger haben das instinktiv schon immer gemerkt: Natürlich ist für sie der 7. Tag der Shabbat, wo der Mensch ruhen soll, aber der Shabbat wiederum ist eine Vorwegnahme des letzten Ziels der Schöpfung. Er ist ein Symbol für die messianische Zeit. Er soll den Menschen an dieses Ziel erinnern und ihm helfen, es schon jetzt ein wenig einzuüben.
Sie merken sehr deutlich: Diese Schöpfungsgeschichte erzählt von Schöpfung, natürlich, durchaus davon, wie das alles begann, aber sie macht auch deutlich, dass das Endziel der Schöpfung noch nicht erreicht ist, ja dass vor allem der Mensch noch lange nicht so ist, wie er sein soll. Da fehlt noch einiges, um es mal so zu sagen!

Aber wie kommen wir dahin, zu dieser Vollendung? Die Antwort darauf gibt die Priesterschrift in der Schilderung der Sinaiereignisse, und sie macht das sehr geschickt, indem sie durch die Zahl Sieben die Schöpfungsgeschichte und die dort stattfindenden Ereignisse miteinander verbindet. Am 7. Tag soll die Schöpfung vollendet werden, und am 7. Tag ruft Gott den Mose in die Wolke hinein (Ex 24,15f), wo er ihm den Auftrag gibt, ein Zeltheiligtum zu errichten. In diesem Zusammenhang sagt Gott dann in Ex 29,43-45: „Daselbst will ich den Israeliten begegnen und das Heiligtum wird geheiligt werden durch meine Herrlichkeit. … Und ich will unter den Israeliten wohnen und ihr Gott sein, dass sie erkennen sollen, ich sei der Herr, ihr Gott, der sie aus Ägyptenland führte, damit ich unter ihnen wohne, ich der Herr, ihr Gott.“ Wie also wird die Schöpfung vollendet? Wodurch wird der Mensch so, dass er seiner Aufgabe nachkommen kann? Wie geschieht Heil und Heilung? Allein dadurch, dass Gott kommt, dem Menschen und der Schöpfung einwohnt! Speziell bezogen auf den Menschen heißt das unter anderem: Der Mensch braucht eine lebendige Gottesbeziehung, die ihn wahrhaft liebesfähig und menschlich macht. Als Christen würden wir das natürlich weiterdenken und sagen: Wir glauben, dass dieser göttliche Heilungsversuch in Jesus eine letzte Tiefe erreicht hat, und natürlich ist klar, dass es auch dann noch weitergehen muss, dass das Ziel erst erreicht ist, wo Gott der ganzen Schöpfung einwohnt.
Eins dürfte damit hinreichend klar sein: Schöpfung wird hier als etwas gedacht, was noch nicht vollendet ist. Schöpfung bedarf der Erlösung. Gott muss kommen, und der Mensch muss sich für dieses Kommen öffnen, damit die Schöpfung ihrem Ziel näher kommt.

Lassen Sie mich dies nur durch ein paar Sätze ganz kurze Sätze zur zweiten Schöpfungserzählung ergänzen. Diese Schöpfungserzählung hat man lange so verstanden, dass es einmal ein Paradies gab, aus dem der Mensch vertrieben wurde, weil er gesündigt hat, und jetzt muss Gott ihn erlösen, damit er wieder in den Urzustand zurück kann. Ich halte dieses Verständnis von Urstand und Fall für ein völliges Missverständnis. Nein, diese Geschichten wollen nicht primär sagen, dass wir einmal im Paradies waren. Sie sind nicht historisch zu lesen, sondern im Sinne der Ambivalenz, der Gespaltenheit und Widersprüchlichkeit menschlichen Daseins. Die Geschichte vom Paradies zeigt uns, wie es eigentlich von Gott gedacht war, d.h. wie es sein kann, wenn wir in einer liebend-vertrauensvollen Gottesbeziehung leben, und die Geschichte vom Sündenfall zeigt uns exemplarisch, wie wir sind, zeigt uns, dass wir Erlösung brauchen. Hebräisches Denken drückt Sachverhalte nicht definierend, sondern erzählend aus.
Ich fasse zusammen: Die biblischen Schöpfungsgeschichten verstehen Schöpfung als einen von Gott initiierten Prozess, der aber noch lange nicht zu Ende ist, sondern der göttlichen Offenbarung und natürlich auch einer bestimmten menschlichen Resonanz bedarf, um zum Ziel zu kommen.

2) Der Weg zum Ziel: Gottes Wirken in der Schöpfung und die Eigenständigkeit der Schöpfung

Wenn man davon ausgeht, dass wir uns mitten im Schöpfungsprozess befinden, dann ist klar, dass Gott als der gedacht werden muss, der in allem weiter schöpferisch wirksam ist. Bereits in der kirchlichen Schöpfungslehre ging man deshalb davon aus, dass es eine creatio originans gibt, eine Schöpfung am Anfang, und eine creatio continua, eine sich fortsetzende Schöpfung. Dass Gott in allem wirkt, ist in der Bibel jedenfalls kein ungewöhnlicher Gedanke.
So wird im Psalm 104 immer wieder alles direkt auf Gott zurückgeführt: Es wartet alles auf dich, dass du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit. 28 Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gut gesättigt. 29 Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; du nimmst weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder zu Staub. 30 Du lässest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und du erneuest die Gestalt der Erde.

Im Johannesevangelium wird davon ausgegangen, dass das göttliche Wort, der Logos, der in Jesus Mensch wurde, die ganze Schöpfung durchwirkt: „Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. 4 In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.“

Wenn man einen saloppen Vergleich will: diese Welt ist eine Art Hüpfburg, und würde Gott durch seine schöpferische Lebensenergie nicht alles am Leben, Laufen und Entwickeln halten, dann würde alles wie eine Hüpfburg ohne Luftzufuhr in sich zusammenfallen. Die Bibel denkt Gottes Gegenwart in der Welt panentheistisch, nicht pantheistisch, auch nicht deistisch Pantheistisch, das wäre: Alles ist mit Gott gleichzusetzen. Deistisch, das wäre: Gott hat die Welt zwar wie ein großer Uhrmacher in Bewegung gesetzt, aber dann sich selbst überlassen, und jetzt läuft alles ohne ihn. Pan-en-theismus, das heißt: Gott und Welt sind einander ein Gegenüber, aber Gott ist in allem verborgen wirksam, begleite alles Werden mit seiner Gegenwart.

Dass Gott alles begleitet, trägt und durchwirkt, kann nach dem biblischen Zeugnis aber nicht bedeuten, dass er auch alles bestimmt. Denn er hat der Schöpfung ja eine bestimmte Eigenständigkeit und Freiheit gegeben. Nicht alles, was auf Erden geschieht, ist von Gott gewollt. Nein, es gibt viel Chaos, Böses, Krankhaftes, das nicht von ihm kommt, das damit zu tun hat, dass die Dinge sich in einer Weise entwickeln dürfen, wie Gott es nicht will.

Die 100.000-Dollar Frage ist nun freilich, wie man das zusammendenken kann: Das Wirken Gottes und die Freiheit der Schöpfung?

Gibt es da eine biblische Lösung? Nun will ich nicht verschweigen, dass es in der Bibel durchaus Texte gibt, wo man den Eindruck hat, dass Gott ohne Gewalt am Ende seine Ziele nicht erreichen kann. Wenn ich aber von der Kernbotschaft Jesu ausgehe und von ihr geprägt die Bibel lese, dann habe ich doch den Eindruck, dass Gott seine Ziele nicht dadurch erreichen will, dass er sie von oben nach unten gewaltsam durchsetzt, sondern so, dass er dafür wirbt und unter uns die Sehnsüchte erweckt, die in die richtige Richtung gehen.

Eine atl. Geschichte, die dies für mich sehr schön beschreibt ist die der Gottesbegegnung des Elia. Elia war ein Kämpfertyp, einer, der das Gute die Gottesherrschaft in Israel realisiert sehen wollte. Er scheute dabei auch nicht vor Gewalt zurück, indem er die Gottesfeinde umbrachte. Dieser Elia bekommt am Sinau nun eine Gottesoffenbarung. Ich lese ihnen das mal vor:

Und siehe, das Wort des HERRN kam zu ihm und sprach zu ihm: Was machst du hier, Elia? 10 Er sprach: Ich habe geeifert um den HERRN, den Gott Zebaoth; denn die Kinder Israel haben deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert erwürgt, und ich bin allein übriggeblieben, und sie stehen darnach, dass sie mir mein Leben nehmen. 11 Er sprach: Gehe heraus und tritt auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR ging vorüber und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, vor dem HERRN her; der HERR war aber nicht im Winde. Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben. 12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. 13 Da das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging heraus und trat in die Tür der Höhle.

Traditionell stellte man sich Gottes Kommen immer gewaltig vor. Hier heißt es nun: In all diesen mächtigen Gotteserscheinungen war Gott nicht, sondern in dem leisen sanften Sausen. Buber übersetzt: „eine Stimme verschwebenden Schweigens“. Ist dies nicht ein eindeutiger Protest gegen Gewaltanwendung und ein Plädoyer für einen Gott, der seine Ziele auf sanfte Weise erreichen will? Ist es nicht dieser Gedanke, weshalb für Christen das Kreuz Jesu so große Bedeutung hat? Denn dort hängt der, der sich selbst dort, wo er Schlimmstes erlebt und erfahren hat, nicht von der Liebe abbringen lässt, sondern auf diese Liebe vertraut, dass sie sich am Ende durchsetzen wird. Und in diesem einen hat sich nach christlicher Überzeugung Gott selbst offenbart: In ihm kam Gott selbst zu uns!

Eine neuere christliche Theologierichtung, die dies denkerisch zu erhellen versucht, auf die ich jetzt aber nicht genauer eingehen kann, ist im Gefolge von A.N. Whitehead die amerikanische Prozesstheologie.

3) Die Einwohnung Gottes als Ziel der Schöpfung: das neue Jerusalem

Ich möchte schließen mit einem Text aus der Johannesoffenbarung. Nicht zufällig spricht die Bibel in ihren letzten Seiten von der Vollendung der Schöpfung durch Gott. Wir lesen da:

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Stuhl saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht zu mir: Schreibe; denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! 6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will den Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst.

Am Ende wird Gott so radikal die Schöpfung mit seiner Gegenwart durchdringen, ihr „einwohnen“, dass die Schöpfung und der Mensch endlich so sein werden, wie sie sein sollen. [Stichwort „Einwohnung“] Das Endziel Gottes besteht also nicht darin, die Schöpfung zu vernichten, sondern sie so zu verwandeln, dass sie eine vollendete und in dem Sinn eine neue Schöpfung sein wird. Gott erlöst uns nicht von der Schöpfung. Er erlöst die Schöpfung: die Materie, die Tiere, die Pflanzen, die Menschen. Das ist etwas, was all unser Verstehen übersteigt. Aber wichtig ist, dass die biblischen Texte nicht einfach ein Jenseits als Ziel vor Augen haben, sondern eine vollendete Schöpfung. Kein platonischer Dualismus! Wie Gott das machen wird, das wissen auch die biblischen Texte nicht. Die Bibel hat nicht auf alle Fragen eine Antwort, schon gleich gar nicht auf alle Antworten, die entstehen, wenn wir uns in einen Diskurs mit den Naturwissenschaften begeben, aber sie lebt von der Gewissheit, dass die göttliche Liebe so stark, so schöpferisch, so vollkommen ist, dass es ihr gelingen wird, diesen Sieg zu erringen. Als Menschen sind wir von Gott eingeladen, an diesem Prozess mitzuwirken. D.h. alles, was wir in die Waagschale werfen, an Gutem, an Liebe, an Engagement, an gelungenen Werken, wird nicht nur in der Gegenwart Segen bewirken, sondern wird von Gott als Baustein benutzt werden, um seine vollendete Schöpfung hervorzubringen. Natürlich stellt sich dann auch die Frage, was mit all den Menschen, die sich Gott widersetzen. Ist es denkbar, dass des Menschen Freiheit so groß ist, dass er sich der Liebe Gottes auch noch im Letzten entziehen kann? Das sind Fragen, auf die ich keine Antwort habe und wo ich auch in der Bibel keine eindeutigen Antworten finde. Eines jedoch glaube ich ganz fest: Gott wird niemanden von sich weisen, der zu ihm will, wie lange und wie schlimm einer ihm auch widerstanden hat, und meine Hoffnung ist natürlich, dass er durch die Macht seiner Liebe auch den letzten Widerstand im Herzen eines Menschen brechen kann, aber eben durch Liebe und nicht durch Macht und Gewalt.

Ich habe jetzt wenig über unser notwendiges ökologisches Engagement in unserer Zeit gesagt. Aber ehrlich gesagt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der an den Liebhaber des Lebens glaubt, keine leidenschaftliche Liebe für diese Welt entwickelt, und dann eben auch ein leidenschaftliches ökologisches Engagement. Denn nichts in dieser Welt ist ungeliebt, alles ist dazu bestimmt, in die neue Schöpfung Gottes einzugehen. Diese Welt ist noch nicht vollendet, sie ist noch im Raupenstadium, und ist doch schon jetzt von Gottes Herrlichkeit durchdrungen. Wie wird es erst sein, wenn sie durch Gnade ein Schmetterling geworden ist.

Und wenn Sie nun zum Schluss fragen: Woher ich diese Hoffnung habe und warum ich glaube, dass es nicht nur ein blindes Hoffen ist, so zu denken, dann kann ich nur an das erinnern, was das Zentralereignis des christlichen Glaubens ist: die Auferweckung Jesu. Wir Christen glauben, dass Gott an Jesus so gehandelt hat, ihn so verwandelt hat, dass mit ihm, mit dem Sieg des Lebens und der Liebe, die neue Schöpfung bereits angebrochen ist. Deshalb sagt Paulus, Jesus sei der Erstling der neuen Schöpfung (1Kor 15, 20). Wenn sich die Schöpfung noch im Raupenstadium befindet, dann ist Jesus Christus also gewissermaßen der erste Schmetterling, und Gott wird nicht eher ruhen, bis durch ihn alles verwandelt ist. Wer deshalb ein wenig von dieser verwandelnden Kraft in seinem Leben spürt, von der Auferstehungskraft Jesu Christi, für den ist diese hoffnung mehr als bloße Phantasterei.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Peter Hirschberg

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