„Das Café am Rande der Welt“ und die Geschichte von den Emmausjüngern
Gestern habe ich ein kleines Büchlein gelesen: „Das Café am Rande der Welt“, von John Strelecky. Ein Bestseller! Deutsche Erstausgabe: 2007. Ich halte die 54. Auflage aus dem letzten Jahr in der Hand. Beachtlich! Wieder mal ein Bestseller, den ich relativ spät gelesen habe.
Wie auch immer. Ich fand das Buch anregend. Nicht so sehr wegen seines Inhalts. Den habe ich einfach schon zu oft gehört und gelesen in der immer inflationärer werdenden Lebensratgeber-Literatur. Er heißt auf den Punkt gebracht: „Lebe dein Leben, und zwar jetzt – und lass dich nicht für blöd verkaufen von denen, die dir durch ihre oft materiellen Glücksverheißungen das Blaue vom Himmel versprechen.“ In diesem Buch wird übrigens sogar ein Kürzel für den Sinn des Lebens gefunden, und das heißt: „ZDE“ = „Zweck der Existenz“. Diesen ganz individuellen „ZDE“ gilt es zu finden und zu leben. Irgendwie natürlich alles richtig, aber auch ein wenig banal, vor allem: wenn das bloß immer so einfach wäre. Viktor Frankl, der bekannte Psychotherapeut aus Österreich, hat sich dieser Aufgabe übrigens schon vor längerer Zeit auf etwas höherem Niveau gestellt. Er nannte das Logotherapie. Eine Therapie, die den Menschen individuell helfen soll, ihren spezifischen Lebenssinn zu finden, also das, wofür sie da sind. Was wiederum eine der drei Fragen ist, mit denen der Besucher dieses eigenartigen Cafés auf der Speisekarte konkfrontiert wird: „Wozu bin ich da?“ Aber lassen wir das! Wie gesagt, was mir gefallen hat, ist weniger der Inhalt. Es ist vor allem die Rahmengeschichte, und die ist folgendermaßen konstruiert:
Ein Burnout-gefährdeter Mann nimmt sich ein paar Tage Urlaub, landet gleich am Anfang in einem nervigen Stau, dem er durch Flucht auf die Landstraße zu entkommen versucht. Dabei verfährt er sich hoffnungslos, was man sich in den endlosen Weiten Amerikas natürlich besser vorstellen kann als im zersiedelten Deutschland. Kurz vor Einbruch der Nacht strandet er bei bedrohlich sinkender Tankanzeige an einem Straßencafé. Ein gottverlassener Ort im nirgendwo. Aber wie sich dann herausstellt, ist der Ort gar nicht so gottverlassen, sondern ausgesprochen mystisch. Denn die Besitzer des Cafés kümmern sich rührend um ihren Gast, und zwar nicht nur um sein leibliches Wohlbefinden, sondern auch um sein seelisches. Sie verwickeln ihn in ein Gespräch, wo es um den tieferen Sinn des Lebens geht, und so wird diese Nacht für den Protagonisten der Story gewissermaßen zur Heiligen Nacht. Er wird auf die richtige Spur gebracht. Es dämmert ihm, dass er bislang am wirklichen Leben vorbei gelebt hat. Er tat mehr das, was andere von ihm wollten oder ihm einredeten, statt in sich hineinzuhören, seinen „ZDE“ zu finden und so glücklich zu werden.
Heute ist Ostermontag, und ich erwähne dies, weil mich diese Rahmengeschichte sehr an die klassische Ostermontagsgeschichte erinnert hat, an die Emmausgeschichte. In beiden Geschichten ereignet sich das Außergewöhnliche und Spektakuläre nicht an einem besonderen Ort, sondern mitten im Alltag. Bei den Emmausjünern sieht das so aus:
Am Ostertag wandern sie von Jerusalem nach Emmaus, von Trauer, Sorgen und Ängsten angesichts der Kreuzigung Jesu schwer bedrückt (Lukas 24). Auf ihrem Weg gesellt sich plötzlich der Auferstandene zu ihnen, aber inkognito. Sie erkennen ihn nicht. Er ist für sie ein Fremder. Aber das, was dieser Fremde ihnen dann im Gespräch sagt, hat es in sich. Er eröffnet ihnen neue und hoffnungsvolle Lebensperspektiven, hilft ihnen, die Dinge ganz anders zu sehen. Sie dachten, die Kreuzigung Jesu wäre die endgültige und absolute Katastrophe. Er macht ihnen deutlich, dass dieser Tod einen tieferen Sinn hatte, weil dadurch die Liebe Gottes offenbar wurde. Am Kreuz Jesu wird erkennbar, dass Gott sich selbst dann nicht davon abhalten lässt uns Menschen zu lieben, wenn wir den Repräsentanten seiner Liebe aus Gleichgültigkeit, Niedertracht oder Narzissmus aus dieser Welt hinauskreuzigen. Plötzlich geht den beiden auf: Wenn das stimmen würde, dann wäre die Sache ihres Meisters noch lange nicht ausgeträumt. Dann könnte auch ihr Leben wieder Bedeutung bekommen. Ihr Herz beginnt zu brennen. Sie spüren neues Leben in sich. Am Ende, beim Essen, erkennen sie ihn – und plötzlich ist er wieder weg. Es dämmert ihnen: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Das alles, was sie erlebt hatten, war kein Zufall. In dem Fremden ist der lebendige und auferweckte Christus selbst ihnen begegnet.
Was hat „Das Café am Rande der Welt“ mit der Emmausgeschichte zu tun? Beide Male erfahren Menschen etwas Revolutionäres, das ihrem Leben einen neuen Sinn gibt. Aber sie erfahren es nicht an einem „heiligen“ Ort, sondern mitten in der Welt, mitten in ihrem Alltag. Diese Erfahrung, das ist das zweite, haben sie nicht gesucht. Sie haben sich vielleicht danach gesehnt. Vielleicht waren sie auch reif dafür. Aber sie haben nicht damit gerechnet. Das, was sie erfuhren, hatte etwas Zufälliges, etwas Überraschendes. Es entpuppte sich, je länger sie darüber nachdachten, als Zu-fall, als etwas, das ihnen von außen her zugefallen ist, sozusagen zur rechten Zeit am rechten Ort. Oft (aber nicht immer) haben solche Erschließungserfahrungen – das ist dann das dritte – etwas mit Menschen zu tun. Menschen, denen wir begegnen. Menschen, die sich uns mitteilen und uns ernst nehmen. Menschen, die uns behutsam auf andere Dimensionen aufmerksam machen, sodass in uns plötzlich der Groschen fällt.
Theologisch formuliert könnte man sagen: Strelecky hat ganz gut begriffen, wie Offenbarung funktioniert, wie Gott sich uns in unserem Leben zu erkennen gibt. Er spricht zwar nicht von Gott und auch nicht von Offenbarung, und doch geht das, was er zumindest in seiner Rahmengeschichte beschreibt, genau in diese Richtung. Er hat wahrgenommen, dass uns nur das wirkliche Leben verändert. Ein gutes Gespräch bei gutem Essen kann wahre Wunder bewirken. Abstraktion, Theorie, blutleere Frömmigkeit helfen bei den wirklich wichtigen Fragen oft nur wenig weiter. Gleichzeitig lässt er uns erkennen, dass wir die entscheidende Lebenswende nicht „machen“ können. Anscheinend müssen wir erleben, dass uns mitten im Alltag etwas begegnet, das nicht von dieser Welt ist, das überraschend und manchmal auch irritierend „von außen“ auf uns zukommt.
Ich freue mich, wenn ich biblische Motive in unserer Literatur entdecke. Anscheinend werden in der Bibel eben doch Grundsehnsüchte angesprochen, ohne die Menschen auch in einem eher säkularen Kontext nicht leben können. Ein Charakteristikum des biblischen Gottes ist zweifelsfrei, dass er nicht abstrakt bleibt, sondern Menschen mitten im Leben begegnet. Alltägliches, Essen und Trinken, die Arbeit, die Natur, Gespräche, alles kann transparent werden für seine Gegenwart. Das ist das Geheimnis Gottes, das er sich alles Menschliche „anziehen“ kann, um uns zu begegnen, ja es nicht einmal anziehen muss, weil er schon immer in allem bei uns ist, ja letztlich alles aus ihm kommt. Er muss sich nur zu erkennen geben, und wo das passiert, da spüren wir plötzlich, dass es ein uns freundlich zugewandtes liebendes göttliches Du gibt. Plötzlich erscheint uns alles in einem anderen Licht. Dann erkennen wir auch, warum unser Leben Sinn hat und es so etwas wie einen „ZDE“ gibt. Es gibt ihn, weil ein einzigartiger Gott uns einzigartig geschaffen und unendlich viel Gutes in uns hineingelegt hat. Und das Beste: Er will uns helfen, diesen Schatz zu entdecken. Wir müssen es nicht alleine tun.
All das sagt Strelecky so natürlich nicht, trotz seiner schönen Rahmengeschichte. Aber so würde ich ihn gerne weiterdenken. Denn wie gesagt: So leicht ist das mit dem Finden des „ZDE“ nicht. Ich bin jedenfalls froh, dass es einen liebenden Gott gibt, der mir in dem Gespräch, das sich Leben nennt, zeigen will, wozu ich da bin …