Predigt zu 2Kor 5,19f - Versöhnung durch das Kreuz

Liebe Gemeinde!

Versöhnung! Das klingt wie eine wunderschöne Verheißung. Wie ein strahlender heller Morgen nach düsteren und regnerischen Tagen. Versöhnung! Ein Wort voller Hoffnung und Sehnsucht!

Das ist es doch, was wir uns für unsere Beziehungen wünschen. Was wäre nicht alles gewonnen, wenn die Wunden, die wir uns gegenseitig beibringen, endlich geheilt würden? Was für ein Wunder wäre es, wenn ich dem wieder in die Augen sehen könnten, der mich irgendwann einmal abgeschrieben hat – oder ich ihn?
Versöhnung, das ist der Inbegriff dessen, was wir uns für unser entzweites inneres Leben wünschen. Die enorm angewachsene Literatur zum Thema Lebenshilfe ist doch nichts anderes als ein einziger Schrei nach versöhntem und harmonischem Leben. Endlich mit sich im Reinen sein, ohne Schuldkomplexe und Neurosen. Endlich ein frohes und bejahtes Leben führen.

Führt man sich diese unbändige Sehnsucht nach versöhntem Leben vor Augen, dann kann es auf einen wie eine herbe Enttäuschung wirken, wenn der Apostel von all den angesprochenen Themen kein einziges erwähnt. Er spricht streng genommen nur von einem: von der Versöhnung des Menschen mit Gott. – Nun bedeutet das sicher nicht, daß ihm alle anderen Bereiche unwichtig sind. Aber es ist zu vermuten, daß er in der Gottesfrage den zentralen Punkt sieht. Den Punkt, von dem her man die anderen Fragen erst sinnvoll angehen kann.

Aus diesem Grund möchte ich Sie heute morgen dazu einladen, mit mir den Blick nur auf diesen einen Punkt zu richten. Nicht um anderes auszugrenzen, sondern deshalb, weil erst von diesem einen Punkt her alles andere im rechten Licht erscheinen kann. Damit werden sicher nicht alle dunklen Geheimnisse unseres Lebens ihre Antwort finden, aber es kann sehr wohl sein, daß dadurch aus dunklen Geheimnissen helle Geheimnisse werden.

Gott war in Christus! Der heilige und geheimnisvolle Gott hat sich so tief in das Leben des Menschen Jesus von Nazareth hineinverwoben, daß das Leben dieses einen Menschen das göttliche Leben selbst abbildet. Fragt man nach dem Ziel dieser einzigartigen göttlichen Aktion, dann heißt die Antwort in unserem Text klar und deutlich: Gott hat sich aufgemacht, um uns mit sich zu versöhnen. – Damit freilich beginnen auch schon die Fragen. Denn daß wir mit Gott erst versöhnt werden müssen, das ist nun wahrhaft alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Sind wir denn wirklich so gottlos? Wer sagt denn, daß wir nicht jubeln und feiern, wenn Gott endlich aus dem Dunkel seines Geheimnisses heraustritt und sich uns zu erkennen gibt?
Genau dies sagt in einer fast unheimlich sprechenden Weise das Kreuz Jesu. An diesem Kreuz, nur wenige hundert Meter von unserer Kirche entfernt, wurde offenbar, daß unser menschliches Verhältnis zu Gott zutiefst gestört ist. Anders jedenfalls ist es kaum zu erklären, daß Menschen alles Menschen Mögliche getan haben, um diesen Gott so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Betrachten wir deshalb die Szenerie um das Kreuz herum ruhig ein wenig genauer.
Da ist Pilatus: ein gewiefter und wegen seiner Skrupellosigkeit bekannter Machtpolitiker. Er wollte den vermeintlichen Unruhestifter Jesus möglichst schnell ausschalten. Natürlich hat er dies sehr geschickt angestellt. Er fragt nach, hier und dort, ja er fragt sogar Jesus selbst. Aber es scheint, daß er nur deshalb so viel fragt, weil er sich eine Frage nicht stellen will. Die Frage nämlich, ob es das Interesse Roms und das Interesse an der eigenen politischen Karriere rechtfertigen kann, daß ein Unschuldiger hingerichtet wird. Ich habe den Eindruck, daß Pilatus durch sein übereifriges Handeln nur eines erreichen will. Er will die Unruhe seines Gewissens übertönen. Er besorgt sich Argumente, um vor sich selbst bestehen zu können. Und so kam es, wie es kommen mußte: Allem Hin- und Herfragens zum Trotz wird Jesus den Henkern übergeben.
Da sind die offiziellen Repräsentanten der Religion. Sie wissen, daß man sich von Gott kein Bild machen soll. Und doch haben sie ein Bild von Gott. Jedenfalls wissen sie ganz genau, daß der Gott, den Jesus verkündigt, nicht ins Bild paßt. Der Gott Jesu ist einfach zu sehr ein Gott der Elenden und Verachteten. Dieser radikale Zug nach unten ist Gottes nicht würdig. Kann es denn wirklich sein, daß der Allmächtige sich ganz und gar auf die Seite dieses unbedeutenden Galiläers gestellt hat? Darf man Gott so sehr in das menschliche Elend hineinziehen, daß man selbst mit ausgewiesenen Verbrechern ißt und diese die Liebe Gottes spüren läßt. Und schließlich: Darf man um eines solchen Glaubens willen die geheiligten Institutionen der Religion angreifen? Nein, der Nazarener hat den Bogen überspannt.
Und dann waren da noch die Jünger. Das heißt: sie waren eigentlich schon nicht mehr da. Sie hatten sich bereits aus dem Staub gemacht. Allen voran Petrus. Es war einfach zu gefährlich geworden. Jetzt galt es, die eigene Haut zu retten. Wer konnte in diesem Augenblick denn noch wirklich wissen, ob man sich nicht doch gründlich in Jesus getäuscht hat. Vielleicht ist Jesus doch gescheitert, ohne wenn und aber. Vielleicht war er doch nicht der, für den man ihn hielt. Soll man für eine gescheiterte Existenz sein Leben aufs Spiel setzen? Das kann niemand verlangen. Nein, in manchen Situationen muß man zuallererst auf das eigene Wohl bedacht sein.

Müssen wir mit Gott versöhnt werden? – Das Kreuz Jesu zeigt zuerst einmal, daß wir Menschen vor allem eines wollen: gut und glücklich leben. Pilatus will es, indem er seine politische Karriere im Blick behält. Die Hüter der Religion wollen es, indem sie das Gebäude ihrer Glaubensüberzeugungen verteidigen. Die Jünger wollen es, indem sie einfach nur darauf bedacht sind, ihre Haut zu retten. Kann man es ihnen verdenken? – Kann man es uns verdenken, wenn wir in vielen Situationen ähnlich reagieren? – Ich denke, das Problem besteht nicht darin, daß wir das Leben suchen. Wer wollte uns das übel nehmen? Das Problem besteht darin, daß wir das Leben an Gott vorbei suchen. Und das tun wir nicht zuletzt deshalb, weil wir in unserem Inneren zutiefst mißtrauisch sind gegenüber diesem Gott. Irgendjemand hat uns eingeredet, daß Gott uns das Leben nicht gönnt. Und diese Lüge fiel in den Tiefenschichten unserer Seele auf fruchtbaren Boden. Nun sind wir besessen von dem Wahn, daß wir uns das Leben selbst erkaufen müssen. Ob wir dabei glücklich werden ist eine andere Frage. Oft ist es eher so, daß wir getrieben von der Angst vor dem Tod versuchen, so viel wie möglich aus dem Leben herauszuholen. Wir kämpfen um Achtung und Anerkennung. Tappen von einer Falle in die andere, weil immer wieder neue Traumgespinste vor uns auftauchen, die uns Leben und Glück verheißen. Und am Rande unseres Weges sammeln sich die unzähligen Opfer, die dafür erbracht werden müssen.
Man erzählt sich, daß in einem Theater einmal ein Brand ausgebrochen ist. Plötzlich entstand eine Panik. Alle drängen zur Tür. Doch die Tür geht nur nach innen auf. Von hinten ertönt eine Stimme: Alle einen Schritt zurücktreten. Doch keiner ging zurück. Von der eigenen Lebensangst getrieben wurde weiter gedrängelt und geschoben. Die Tür blieb zu. Der Brand wurde Gott sei Dank gelöscht. Aber dennoch kamen Menschen ums Leben – erdrückt vom Andrang der Menge.
So viele Probleme könnten gelöst werden, wenn jeder nur einen Schritt zurückginge. Stellen wir uns nur vor, daß jeder nur auf ein wenig verzichten würde. Wie viele Arbeitsplätze könnten so geschaffen werden. Wie viel sozial Not könnte gelindert werden. Aber getrieben von der Angst, zu kurz zu kommen, vermasseln wir uns gegenseitig das Leben.

Eines unserer Opfer hängt am Kreuz von Golgotha. Das Unglaubliche an dieser Geschichte ist, daß der Gott, der in dem Menschen Jesu lebendig war, es sich gefallen ließ, ein solches Opfer zu sein. Er erträgt unsere menschliche Sünde bis zum bitteren Ende. Und noch wichtiger, er erträgt uns mitsamt unserem Stolz und unserem Eigensinn: und auch das bis zum Ende. Was hier, am Kreuz Christi geschehen ist, kann man mit dem Verstand nicht begreifen. Die ganze geballte Macht der Finsternis stürmt gegen Gott an. Wäre Gott wie wir Menschen, dann wäre spätestens am Kreuz Jesu die Zeit dafür reif gewesen, um mit einem Handstreich das ganze Menschengeschlecht zu vernichten. Gott hätte wahrlich genug Grund dazu gehabt. Er kommt in sein Eigentum, doch statt freundlich empfangen zu werden, wird er beleidigt, gedemütigt und aufs schlimmste mißhandelt. Aber Gott ist eben nicht wie wir Menschen. Von einer leidenschaftlichen Liebe getrieben will er nicht von seinem Geschöpf lassen. Deshalb passiert das Unglaubliche: Diese gewaltige Woge menschlicher Selbstsucht und Agression brandet gegen den Nazarener an und läuft sich tot in der Liebe Gottes. „Vater vergib ihnen“, diese drei Worte waren alles andere als leicht dahingesprochen. Sie haben Jesus sicher viel Kämpfe gekostet. Denn wie kein anderer hat er unter der Gemeinheit der Menschen gelitten. Wie keiner anderer hat ihn unsere Selbstsucht empört. Aber als diese Worte gesprochen waren, da war ein Kampf von kosmischen Ausmaßen entschieden. Gott selbst hat in Jesus seine Liebe durchgehalten, bis zum letzten Blutstropfen. Damit ist unsere menschliche Schuld und Sünde nicht verharmlost, ganz im Gegenteil, sie ist in ihrer lebensfeindlichen Macht bloßgestellt und verurteilt. Aber durch die Kraft der versöhnenden Liebe Gottes ist sie endgültig überwunden. Unsere Sünde hat das Leid in Gott selbst hineingetrieben, das ist wahr. Aber sie hat es nicht geschafft, uns von ihm zu trennen.

Diese Liebe Gottes, die sich uns am Kreuz offenbart, kann uns im Tiefsten unseres Herzens verwandeln und wieder zurecht bringen.
Wenn Gott uns eine solch atemberaubende Liebe erwiesen hat, dann wird es uns vielleicht endlich klar, daß wir uns Liebe und Anerkennung nicht mehr verdienen müssen. Ich weiß: Diese Botschaft ist so einfach, daß wir gerne schnell darüber hinweggehen. Aber oft ist das einfachste das elementarste. Und oft man braucht man ein Leben lang, um das Einfachste wirklich zu kapieren. Deshalb frage ich: Verstehen wir wirklich, was das bedeutet?
Ich muß mich nicht mehr abrackern, um mir und anderen durch meine Taten zu beweisen, was für ein toller Kerl ich bin. Ich muß, wenn ich einmal aus dem Leben gehe, auch nichts hinterlassen, was sich menschlich gesprochen sehen lassen kann: keinen Buchdeckel, auf dem mein Name steht und keine Gedenktafel, die an meine großartigen Errungenschaften erinnern. Auch wenn ich nur mit Bruckstücken und Halbheiten vor Gott stehe. Er nimmt mich an und verwandelt meine Fragmente in etwas Ganzes und Schönes. Und am allerwenigsten muß ich andere als Konkurrenten empfinden und mich in den Vordergund drängen. Ganz im Gegenteil, ich kann lernen, andere Menschen mit den Augen des liebenden Gottes zu sehen und so selbst Schritte der Versöhnung wagen. So vieles muß ich nicht mehr, und so vieles kann ich neu. Und das alles aus einem Grund: weil Gott mich ansieht und zu mir sagt: Sehr gut! Es ist sehr gut, daß es dich gibt. Nichts und niemand wird dich aus meiner Hand reißen.
Wo wir uns Gottes Liebe gefallen lassen, da werden wir also nicht nur mit Gott versöhnt, wir werden auch mit uns selbst und miteinander versöhnt.

Ich weiß, daß dies alles nur schöne Worte sind, wenn wir die Liebe Gottes nicht real in unserem Herzen spüren. Ich weiß umgekehrt aber auch, daß wir eine solche Herzenserfahrung nicht erzwingen können. Zinzendorf! Auch nicht durch eifrige religiöse Übungen. Aber vielleicht brauchen wir auch gar nichts zu machen. Wenn Paulus sagt: „Laßt euch versöhnen mit Gott“, dann sagt er letztlich nur eines: Laßt Gott kommen. Tretet vor Gott hin, so wie ihr seid, mit euerer Schuld und euren Zweifeln, mit eurem Leid und eurer Bitterkeit. Und dann bittet Gott um sein Kommen. Der Rest ist seine Sache, nicht die eure. Amen

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Aktuelles

31. Januar 2022

Jesu Weg und unser Weg - eine Pilger- und Wanderreise auf Jesu Spuren

Sie fahren gerne im klimatisierten Reisebus durch exotische Länder, um nur ab und zu für genau getaktete Besichtigungen auszusteigen? Sie finden es zu anstrengend, sich auch mal selbst auf den Weg zu machen, um im Gehen die Landschaft wirklich unter die Füße zu bekommen und neue Erfahrungen zu machen? Sie wollen alles sehen, was zu sehen ist, auch wenn Sie dabei kaum noch aufnahmefähig sind? Sie interessieren sich für Religion und Theologie, aber haben kein so großes Interesse daran, über Glaubensfragen mit sich selbst oder anderen Menschen ins Gespräch zu kommen? … Wenn das so ist, dann würde ich Ihnen von meiner Pilgerreise nach Israel/Palästina dringend abraten. Im anderen Fall kucken Sie sich mein Angebot gerne mal an …

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5. April 2021

„Das Café am Rande der Welt“ und die Geschichte von den Emmausjüngern

Gestern habe ich ein kleines Büchlein gelesen: „Das Café am Rande der Welt“, von John Strelecky. Ein Bestseller! Deutsche Erstausgabe: 2007. Ich halte die 54. Auflage aus dem letzten Jahr in der Hand. Beachtlich! Wieder mal ein Bestseller, den ich relativ spät gelesen habe.

Wie auch immer. Ich fand das Buch anregend. Nicht so sehr wegen seines Inhalts. Den habe ich einfach schon zu oft gehört und gelesen in der immer inflationärer werdenden Lebensratgeber-Literatur. Er heißt auf den Punkt gebracht: „Lebe dein Leben, und zwar jetzt – und lass dich nicht für blöd verkaufen von denen, die dir durch ihre oft materiellen Glücksverheißungen das Blaue vom Himmel versprechen.“ In diesem Buch wird übrigens sogar ein Kürzel für den Sinn des Lebens gefunden, und das heißt: „ZDE“ = „Zweck der Existenz“. Diesen ganz individuellen „ZDE“ gilt es zu finden und zu leben. Irgendwie natürlich alles richtig, aber auch ein wenig banal, vor allem: wenn das bloß immer so einfach wäre. Viktor Frankl, der bekannte Psychotherapeut aus Österreich, hat sich dieser Aufgabe übrigens schon vor längerer Zeit auf etwas höherem Niveau gestellt. Er nannte das Logotherapie. Eine Therapie, die den Menschen individuell helfen soll, ihren spezifischen Lebenssinn zu finden, also das, wofür sie da sind. Was wiederum eine der drei Fragen ist, mit denen der Besucher dieses eigenartigen Cafés auf der Speisekarte konkfrontiert wird: „Wozu bin ich da?“ Aber lassen wir das! Wie gesagt, was mir gefallen hat, ist weniger der Inhalt. Es ist vor allem die Rahmengeschichte, und die ist folgendermaßen konstruiert:

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13. März 2021

Wie Corona unsere Gesellschaft verändert

Ich erinnere mich noch an die Zeit vor einem Jahr. Frühling 2020! Damals war Corona für uns alle noch Neuland. Neben allem Schlimmen, das wir erlebten und wovor wir Angst hatten, gab es auch einen leisen Optimismus. Viele hofften, dass durch die Pandemie auch Positives in Gang kommen würde. Covid-19 galt als Augenöffner. Der „Brennglaseffekt“ war in aller Munde. Bernd Ulrich schrieb in der Zeit (20.05.):
„Corona ist nicht die Mutter aller Krisen, noch weniger stellt sie die größte Gefahr für die Menschheit dar (das ist und bleibt das ölologische Desaster, das sich mit wachsendem Tempo vollzieht), Corona ist aber vielleicht die aufklärerischste Krise, weil sie die Welt so verlangsamt hat, dass man ihre Bewegungsgesetze besser verstehen kann.“

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