Das Jahr 2000, die Apokalyptik und so manches mehr

Der folgende Text wurde im Jahr 2000 geschrieben, wo apokalyptische Bewegungen Hochkonjunktur hatten. Nun ist das Jahr 2000 vorbeigegangen, ohne dass die Welt untergegangen wäre oder Gott in besonderer Weise in das Weltgeschehen eingegriffen hätte. Apokalyptische Bewegungen jedoch gibt es immer noch und deshalb hat auch die die theologische Auseinanderstzung mit ihnen noch nichts an Aktualität eingebüßt.

Endzeiterwartungen um die Jahrtausendwende

Skurrile oder verrückte Gestalten, die das nahende Ende der Welt verkündigen, gibt es in Jerusalem genug. Ich erinnere mich z.B. noch gut an einen Amerikaner, den ich vor gut 15 Jahren oft in der Altstadt herumlaufen sah. Er hatte einen langen weißen Bart, einen Stock und trug immer einen scharzen Aktenkoffer mit sich herum, wo auf der einen Seite „Elia, der Prophet“ und auf der Rückseite „Jesus kommt bald“ stand. Seine Botschaft war klar. Er verstand sich als Prophet Elia, der angesichts der baldigen Widerkunft Jesu zur Umkehr ruft. Manchmal beschimpfte er Touristen und hielt zornerfüllte Reden. Wenn er besser gelaunt war, dann schleuderte er jedem, der es wollte oder auch nicht, ein fröhliches „Praise the Lord!“ entgegen. Nachdem ich ihn überraschenderweise vor einiger Zeit wieder in der Altstadt sah, hörte ich nun, daß er abgeschoben wurde. Die Israelis greifen immer öfters zu dieser letzten Maßnahme, weil sie fürchten, daß angesichts des Milleniums solche Endzeitfanatiker schlimmen Schaden anrichten könnten. Nun wage ich zu bezweifeln, daß von unserem Elia eine große Gefahr ausgegangen wäre, aber generell sind die israelischen Ängste nicht unberechtigt. Man erinnere sich nur an den australischen Christen Dennis Rohan, der 1969 die El Aksa Moschee in Brand steckte, weil die Stimmen, die er hörte, ihm zu verstehen gaben, daß erst die islamischen Heiligtümer beseitigt werden müssen, bevor die messianische Zeit beginnen kann. Welche Folgen die Wahnsinnstat eines Einzelnen in der hochbrisanten und politisch angespanneten Atmosphäre Jerusalems haben könnte, wagt man sich kaum auszumalen. Achtsamkeit ist also dringend gefordert, zumal schon bestimmte Gruppen angekündigt haben, daß sie durch Massenselbstmorde und die Zerstörung „feindlicher“ Heiligtümer die messianische Zeit herbeizwingen wollen.

Jerusalem als Zentrum apokalyptischer Erwartungen
Auch wenn das Jahr 2000 bei manchen ChristInnen Fragen hervoruft, die den apokalyptischen Vorstellungskomplex direkt oder indirekt berühren, so gehen wohl die wenigsten davon aus, daß es sich bei dem Jahr 2000 um ein heilsgeschichtliches Schlüsseldatum handelt. Den meisten ist durchaus bewußt, daß es sich bei dieser Zahl um eine rein kalendarische und in diesem Sinn untheologische Größe handelt. Das wiederum ist für endzeitlich aufgeheizte Christen allerdings kaum ein Gegenargument: Die Zahl 2000 ist zu rund und zu schön. Da muß Gott einfach handeln, wenn nicht jetzt, wann dann …
Wiederum eine ganz andere Frage ist, warum diese Erwartungen oft derart stark mit dem Heiligen Land und insbesondere mit Jerusalem verbunden sind. Die einfachste Antwort darauf könnte heißen: Natürlich deshalb, weil die messianisch-apokalyptischen Erwartungen in allen drei großen monotheistischen Religionen schon immer mit Jerusalem verbunden waren. So beten religiöse Juden im Achtzehngebet täglich um die Erfüllung messianischer Verheißungen, die direkt mit Jerusalem und dem Heiligen Land verbunden sind. In der 14. Beracha heißt es: „Nach deiner Stadt Jeruschalaim kehre in Erbarmen zurück, wohne in ihr, wie du gesprochen, erbaue sie bald in unseren Tagen als ewigen Bau, und Davids Thron gründe schnell in ihr.“ Im Christentum hat die Erwartung des himmlischen Jerusalem zwar oft die Bedeutung des irdischen verdrängt, aber auch im Neuen Testament gibt es noch einige Texte, die mit einer messianisch-geschichtlichen Restauration mit Jerusalem als Zentrum rechnen. Die deutlichste Sprache spricht hier sicher die Erwartung des Tausendjährigen Reiches in der Johannesoffenbarung (Joh 20, 1-10). Abgesehen davon sind die jüdisch-apokalyptischen Erwartungen durch das Alte Testmanet vermittelt ja auch im Christentum präsent. Selbst im Islam, wo eine gewisse Konkurrenz zwischen Jerusalem und Mekka/Medina nicht geleugnet werden kann, sind die messianischen Ereignisse eigenartigerweise mehr mit Jerusalem als mit Mekka verbunden.

Nun genügt das Vorhandensein solcher Texte und Traditionen freilich noch lange nicht zur Erklärung der messianisch erhitzten Atmosphäre, wie wir sie heute im Heiligen Land finden. Texte bedürfen immer auch einer bestimmten gesellschaftspolitischen und globalen Großwetterlage, in der sie ihr Potential entfalten können. Stimmt diese Großwetterlage nicht, dann können sie Jahrhunderte im Handgepäck der Religionen mitgeschleppt werden, ohne daß sie irgendeine praktische Relevanz entfalten. Vor allem überraschende geschichtliche Entwicklungen und Umwälzungen rufen nach einer theologischen Deutung. Wenn messianische Erwartungen heute in manchen christlichen und jüdischen Gruppen eine große Rolle spielen, dann deshalb, weil die geschichtlichen Umstände und Entwicklungen dem in großem Maße entgegenkommen.

Israel – Zeiger an der Weltenuhr Gottes?
Fragen wir nach der besonderen geschichtlichen Konstellation, die die mit Jerusalem verbundenen messianischen Erwartungen neu belebt hat, dann müssen wir die Situation des Nahen Ostens näher in den Blick nehmen, mit Israel als Zentrum. Niemand hätte vor 150 Jahren ernsthaft erwartet, daß es in Palästina nach 2000 Jahren noch einmal einen jüdischen Staat geben wird. Daß dieser Staat Wirklichkeit geworden ist, ist vor allem auf das Entstehen der zionistischen Bewegung zurückzuführen, deren Führer der Überzeugung waren, daß alleine ein eigener Staat auf Dauer vor Antisemitismus schützen und somit das „jüdische Problem“ lösen könne. Der Zionismus war trotz seiner kulturellen Verankerung im Judentum eine a-religiöse Bewegung. Man wollte von der traditionell-religiösen Orthodoxie nichts wissen und wurde umgekehrt von dieser strikt abgelehnt. Orthodoxe Juden sahen in den Zionisten gottlose Gesellen, die sich noch dazu anmaßten, genau das ins Werk setzen zu wollen, was eigentlich nur der Messias tun darf: nämlich die überall in der Welt zerstreuten Juden in das Land der Väter zurückzuholen, um dort eine neue jüdische Heimstätte oder gar einen jüdischen Staat zu errichten. Dies galt als unerlaubtes Bedrängen des Endes. Nicht nur aus theologischen Gründen, weil man Gott nich vorschnell und kleingläubig ins Handwerk pfuschen darf, sondern auch aus pragmatisch-seelsorgerlichen Erwägungen heraus. Denn es ist eine Tatsache, daß solch apokalyptische Bewegungen meist großes Unheil über das jüdische Volk brachten. Als schlimmstes und abschreckendstes Beispiel galt die messianisch-apokalyptische Aufstandsbewegung der Zeloten im 1. Jahrhundert, die zum jüdisch-römischen Krieg und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels führte.
Bedenkt man all dies, ist es um so erstaunlicher, daß es nach einiger Zeit dann doch Versuche gab, zwischen dem gottlosen Zionismus und dem religiösen Judentum Brücken zu schlagen. Einer, der hier bahnbrechend wirkte, war der erste aschkenasische Oberrabbiner im Lande Israel: Abraham Isaak Kook. Für Kook, der vor allem während der britischen Mandatszeit in Jerusalem wirkte, war der Zionismus nicht länger eine rein weltliche und gottlose Angelegenheit. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß Gott gerade mit dieser Bewegung seine Ziele in der Geschichte vorantreibt. Zwar waren auch in seiner Sicht die Zionisten erst einmal Gesetzesübertreter, aber immerhin kamen durch sie Juden aus aller Welt ins Heilige Land. Könnte es nicht sein, so spekulierte Kook, daß sie durch die Berührung mit dem Heiligen Land wieder einen neuen Zugang zu jüdischer Tra¬dition, zu Religion und Gott bekommen. Mit anderen Worten: Könnte der Zionismus nicht eine vormessianische Stufe darstellen, indem er den Weg der Umkehr zu Gott vorbereitet? Ein Gedanke, der sich immer größerer Beliebtheit erfreuen sollte und in der Folgezeit zu zahlreichen Verbindungen zwischen Zionismus und religiöser Orthodoxie geführt hat. Heute ist das Denken Kooks weiter verbreitet als je zuvor. Extremstes Beispiel dafür ist die Siedlerbewegung (Gusch Emunim). Die Siedler sind der festen Überzeugung, daß sie in einer heißen und für die (messianische) Zukunft entscheidenden Phase der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel leben. Es wäre des¬halb Sünde gegen Gott, in dieser geschichtlichen Stunde verheißenes Land wieder herzugeben, es wäre eine Sünde gegen den messianischen Prozeß. Jede neue Siedlung treibt diesen Prozeß weiter voran, jede Landrückgabe an die Palästinenser ist ein Schritt zurück. Die enge Verbindung von politisch-nationalistischem Engagement und orthodox-messianischer Frömmigkeit liegt im Prinzip ganz auf der Linie Kooks – auch wenn Kook als Repräsentant eines reflektierten und ethisch hochstehenden Judentums die rassistische und antipalästinensische Haltung der Siedler nie akzeptiert hätte.
Christlich-apokalyptisch inspirierte Gruppen und Bewegungen schließen sich direkt an die eben skizzierte jüdisch-heilsgeschichtliche Interpretation an. Auch sie erkennen in der Gründung des Staates Israel und der jüdischen Rückwanderung eine vormessianische Stufe. Nur daß für sie die eigentlich messianische Phase natürlich direkt mit ihrer christlichen Hoffnung in Verbindung steht. Sei es in dem Sinn, daß sie die baldige Widerkunft Jesu erwarten, sei es, daß sie auf eine geistliche Erneuerung Israels hoffen, die dazu führt, daß das ganze jüdische Volk zur Erkenntnis Jesu Christi kommt. Durch dieses messianisch erneuerte jüdische Gottesvolk soll Gottes Erlösungshandeln in dieser Welt dann erst zu seinem eigentlichen Durchbruch kommen. Auf der politischen Ebene führt diese Haltung oft dazu, daß man Israel bedingungslos unterstützt – nicht selten mit einer bewußt antipalästinensischen Haltung. Bei manchen Gruppierungen geht das proisraelische Verhalten soweit, daß man sogar auf eigene Kosten Schiffe chartert, um jüdische Einwanderer nach Israel zu bringen. Judenmission lehnt man zumeist bewußt ab, da sich Gott selbst dies für die noch kommende messianische Vollendung vorbehalten hat. Ein Sammelbecken für diese Bewegung ist in Jerusalem die sogenannte Internationale Christliche Botschaft, die vor allem dadurch bekannt ist, daß sie parallel zum jüdischen Sukkotfest ein christliches Laubhüttenfest veranstaltet. Höhepunkt dieses Festes ist jedes Jahr ein christlicher Solidaritätsmarsch, wo Tausende von zionistisch bewegten ChristInnen durch die Straßen Jerusalems marschieren und Israel gegenüber ihre Liebe bekunden.
Diese messianisch aufgeheizte Atmosphäre also, die durch eine bestimmte geschichtstheologische Interpretation der Gegenwartsereignisse motiviert ist, macht dieses Land besonders attraktiv für religiös überhitzte Endzeitfanatiker. Damit soll nicht gesagt werden, daß alle, die die Gegenwart in irgendeiner Weise heilsgeschichtlich deuten, als Endzeitfanatiker zu beurteilen sind, aber direkt oder indirekt bereiten diese Gruppen zumindest den Boden vor, auf dem dann die Saat apokalyptischer Fanatiker aufgehen kann.

Kann man Gottes Spuren in der Geschichte erkennen?
Nun kann man sich natürlich leicht über all diese apokalyptischen Spinner lustig machen – solange sie nicht wirklich gefährlich sind -, das entscheidende Problem hat man damit freilich nicht gelöst. Denn man wird immerhin zugeben müssen, daß in diesen Gruppen eine Frage lebendig geblieben ist, die von TheologInnen oft zu schnell und zu billig an den Rand gedrängt wird. Es ist die Frage, ob man Gottes Wirken in der Geschichte überhaupt wahrnehmen kann, bis dahin, daß man vielleicht wirklich berechtigt ist, manches als Zeichen des nahende Endes zu interpretieren. Natürlich ist dies eine heikle Frage. Denn eine zu unmittelbare und zu billige Identifikation von geschichtlichen Ereignissen und Bewegungen mit Gott oder seinem Reich führte meist zu verhängnisvollen Folgen. Oft wurde Gott instrumentalisiert, um menschliche Machtbessesenheit zu legitimieren. So hatte der Triumphalismus der konstantinischen Reichskirche, unter dem vor allem Minoritäten wie die Juden schlimm zu leiden hatten, seinen entscheidenden Grund darin, daß man eine geschichtliche Größe – die Kirche – unmittelbar mit dem göttlichen Reich identifizierte. Aber nicht nur religiöse, auch politische Ideologen greifen gerne auf theologische Deutungsmuster zurück, dann jedenfalls, wenn sie helfen, die eigene Position göttlich abzusichern. Denken wir nur an die nationalsozialistische Terminologie vom „auserwählten“ Herrenvolk, das dazu „berufen“ ist, das „Tausendjährige Reich“ auf Erden zu verwirklichen. Freilich: Das Problem bestand noch nie darin, daß man überhaupt versucht hat, geschichtliche Situationen von Gott her zu deuten, das Problem bestand immer darin, daß man Gott an der falschen Stelle geortet hat. Doch da es im nachhinein immer leicht ist zu urteilen, und wir keineswegs sicher sein können, daß wir heute vor ähnlichen Irrtümern verschont blieben, müssen wir um so dringlicher die Frage stellen, ob wir als Menschen, die noch mitten in den geschichtlichen Abläufen stecken, überhaupt irgendwelche Aussagen über das göttliche Handeln in der Geschichte wagen können. Auch wenn es in diesem Rahmen unmöglich ist, auf diese unendlich komplizierte Frage gründlich einzugehen, so möchte ich zumindest ein paar Gedankenanstöße weitergeben.

Gott hat ein Ziel, aber keinen detaillierten Endzeitfahrplan
Es gibt keine linear verlaufende Heils- oder Unheilsgeschichte, die von uns Menschen problemlos erkannt werden könnte. Gott hat seine Pläne mit dieser Welt, letztlich will er uns Menschen und die Schöpfung durch seine Liebe heilen. Aber Gott hat keinen Geschichts- oder Endzeitfahrplan, der auf Biegen und Brechen so und nicht anders ablaufen muß. Dafür nimmt Gott seinen menschlichen Partner viel zu ernst. Bestes Beispiel dafür ist Jona. Jona soll den Leuten von Ninive sagen, daß Gott die Stadt wegen ihres gottlosen Treibens vernichten wird. Das tut er auch. Doch dann passiert das Überraschende: die Menschen von Ninive tun Buße. Und das noch Überraschendere: Gott ändert seine Meinung und erbarmt sich dieser Menschen. Jona freilich findet das gar nicht gut. Er kommt sich ziemlich bescheuert vor, weil jetzt alle denken, er sei ein falscher Prophet. Beleidigt sitzt er unter seinem Rizinusstrauch und ist bitter enttäuscht über die mangelnde Konsequenz Gottes. Eine großartige Geschiche! Eine Geschichte, die in wunderbarer Weise zeigt, daß Gott kein fanatischer Biblizist ist, der meint, an einem einmal gesprochenen Wort auf Biegen und Brechen festhalten zu müssen. Um der Liebe und Barmherzigkeit willen korrigiert Gott seine Wege. Dennoch war das prophetische Wort, das Jona verkündigt hat, nicht falsch. Es hat einen durchaus heilsamen Prozeß in Gang gesetzt. Für eine bestimmte Zeit war es der Maßstab, an dem sich Jona zu orientieren hatte. Aber Gott geht mit uns einen Weg, der viele Überraschungen enthält. Die Geschichte Gottes mit uns Menschen ist kein Monolog, wo Gott uns in Grund und Boden redet, sondern ein Dialog, wo wir als Gottes Gegenüber ernst genommen werden. Bei einem solchen Gespräch kann man nie im voraus wissen, wie es weiter gehen wird. Es liegt also alles daran, daß wir es lernen, mit Gott Schritt zu halten. Wer an einem einmal gesprochenen Wort auf Gedeih und Verderben festhält und nicht erkennt, daß das Gespäch weitergegangen ist, inzwischen etwas ganz anderes gefordert ist, hat gerade nicht die Wachsamkeit, die gefordert ist, um die Zeichen der Zeit zu erkennen. Er lebt nicht in der Gegenwart. Es gibt durchaus eine echte Kontinuität und Wahrheit in allen von Gott gesprochenen Worten. Es wäre ein Problem, wenn Gott heute das und morgen das Gegenteil davon sagen würde. Aber diese Kontinuität, man könnte auch sagen Treue, liegt mehr in der dynamischen, auf das endgültige Ziel hin gerichteten Stoßrichtung als in einer inhaltlich-formalen Übereinstimmung. Es gibt auch „wahre“ Prophetien, die nicht so, oder jedenfalls nicht genauso in Erfüllung gehen, wie sie zu Beginn in diese Welt hinein gesprochen wurden. Am Ende werden wir erkennen, wie Gott alles wunderbar geführt hat, um uns Menschen und seine Schöpfung gegen alle Wirrnisse und Widerstände zum Ziel zu führen. Aber solange wir noch in dieser Geschichte leben, bleibt all unser Erkennen notwendig fragmentarisch.

Die Zeichen der Zeit in rechter Weise deuten
Trotz aller Vorläufigkeit unseres Verstehens sind wir dazu aufgefordert, die Zeichen der Zeit zu deuten. Nicht um unsere intellektuelle Neugier zu befriedigen, sondern damit wir in rechter Weise auf die Herausforderungen unserer Zeit reagieren können. Für solche Erkenntnis gibt es allerdings kein Patentrezept. Es kann nur gesagt werden, daß sich solche Erkenntnis am ehesten dort ereignet, wo es zu einem ehrlichen Trialog zwischen mir als Fragendem, Gott und der mir begegnenden Wirklichkeit kommt. Letztlich kann mir das Wesen geschichtlicher Prozesse nur von Gott und seiner Offenbarung her erschlossen werden. Denn Gott allein ist das Zentrum aller Wirklichkeit. Hören auf Gott bedeutet dabei, von Gott und seiner Offenbarung her geschichtliche Prozesse auf ihr eigentliches Wesen zu durchleuchten.
Nehmen wir als Beispiel die bereits angesprochene Frage, ob und inwieweit sich in Israels Geschick Gottes Handeln bleibend manifestiert. Wer Röm 9-11 aufmerksam liest, der kommt kaum um die Einsicht herum, daß auch das nicht an Christus gläubige jüdische Volk bleibend von Gott erwählt ist. Gott bleibt seinen Verheißungen treu, auch wenn Menschen ungehorsam sind. Von dieser Wahrheit leben wir. Nehmen wir einmal an, das jüdische Volk wäre um seines Ungehorsams willen von Gott verstoßen worden. Mit welchem Recht könnten wir Christen uns dann heute noch auf Gottes Gnade und Treue berufen – nach einer zweitausendjährigen Geschichte von Schuld und Versagen? Entweder es kommt alles auf Gottes Barmherzigkeit an oder auf unser Tun. Wenn ersteres gilt, dann aber bitte für beide, für Christen und Juden. Nehme ich dies ernst, dann kann ich in der Tatsache, daß das jüdische Volk trotz aller Anfeindungen und Pogrome bis heute als Volk existiert, bis dahin, daß es nun wieder ins Land der Väter zurückkehren durfte, durchaus Gottes Treue erkennen. Doch bei aller Vorrangstellung, die dem jüdischen Volk als von Gott zuerst erwähltem Volk auch im Neuen Testament zukommt, betont dasselbe Neue Testament, daß vor Gott im letzten alle Menschen in gleicher Weise geliebt und angenommen sind. Die „Erwählung Israels“ bedeutet jedenfalls nicht, daß Juden bessere Menschen wären und folglich alles unkritisiert tun und lassen dürften. Sie besagt lediglich, daß Gott sein Ja zu diesem Volk nicht zurücknimmt und auf geheimnisvollen Wegen sein zuerst erwähltes Volk auch dazu bringen wird, diesem Ja seiner Liebe zu entsprechen. Aus diesen Gründen ist eine gegenüber Israel unkritische Haltung, wie sie in manchen christlich-zionistischen Kreisen verbreitet ist, abzulehnen. Erst recht natürlich kann der antiarabische Rassismus, der sich dort zuweilen findet, unmöglich dem in Christus offenbar gewordenen Willen Gottes entsprechen. Will ich also kurz und bündig ausdrücken, was von uns Christen heute gegenüber Israel gefordert ist, dann müßte ich von diesen Einsichten her formulieren: Liebe und Solidarität, ohne Zweifel, aber eine kritische Solidarität. Und was die Zukunft angeht, so glaube ich, daß Gott seinem Volk auch in Zukunft die Treue halten wird. Wie dies im einzelnen aussehen wird, das kann niemand von uns mit letzter Gewißheit sagen. Das kann man auch aus der Heiligen Schrift durch noch so gelehrte Exegese nicht herauslesen.
Letztlich hängt die Tiefe und Wahrheit meiner Einsichten in nicht geringem Maße davon ab, wie weit es mir gelingt, gegenüber mir selbst radikal ehrlich zu sein. Je mehr ich mich von eigenen Wünschen und Interessen innerlich distanzieren kann, je mehr es mir auf Gott und sein Reich ankommt, desto „objektiver“ kann ich die Wirklichkeit betrachten. Apokalypse heißt wörtlich übersetzt Enthüllung. Wahre Apokalyptiker wollen uns sensibel machen für die heil- und unheilvollen Mechanismen unserer Zeit. Weil sie von Gott her erkennt haben, worum es im Leben wirklich geht, was Sinn macht und was nicht, deshalb durchschauen sie, was in unserer Weltgeschichte gespielt wird. Auf diesen Prozeß der Enthüllung, der immer auch ein Prozeß der Demaskierung ist, kommt es an. Alles andere ist vorwitzige und müßige Spekulation.

Prophetie bleibt ein Wagnis
Prophetische Deutung von Geschichte war nicht nur die Aufgabe der großen Propheten der Bibel. Es ist die Aufgabe jedes bewußt lebenden Christen. Auch das Neue Testament bezeugt, daß es in urchristlichen Gottesdiensten gang und gäbe war, prophetisch zu reden. Im Grunde genommen ist schon jede Predigt ein prophetischer Akt. Der Prediger oder die Predigerin wagen es immerhin, bestimmte Situationen, Schicksale und Umstände von Gott her zu deuten. Der Unterschied zu globalen Ereignissen ist dabei nur ein relativer. Wenn wir gesellschaftliche, politische und geschichtliche Entwicklungen von Gott her auf ihren Sinn oder Unsinn hin befragen, tun wir im Prinzip jedenfalls nichts anderes. Eines muß allerdings klar sein und klar bleiben: Alles prophetische Reden ist ein Wagnis. Gottes Heiliger Geist wirkt nie unvermittelt: er muß durch unsere Psyche, durch unser Denken, durch unseren ganzen inneren Menschen hindurch. Da wir als Menschen nie vollkommen sind, da wir immer in der Gefahr stehen, unsere eigenen Wünsche und Interessen mit Gottes Zielen zu verwechseln, ist die Unterscheidung der Geister so wichtig. Prophetie muß deshalb bereit sein, sich der Kritik derer auszusetzen, die ebenfalls im Glauben an Gott ihren Weg gehen. Echte Prophetie wird dies auch nicht scheuen. Denn es geht ihr nicht um Rechthaberei, sondern darum, daß Gott in unserer Welt zum Ziel kommt. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Liebe Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1Kor 13,12f)

Dr. Peter Hirschberg

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Jesu Weg und unser Weg - eine Pilger- und Wanderreise auf Jesu Spuren

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5. April 2021

„Das Café am Rande der Welt“ und die Geschichte von den Emmausjüngern

Gestern habe ich ein kleines Büchlein gelesen: „Das Café am Rande der Welt“, von John Strelecky. Ein Bestseller! Deutsche Erstausgabe: 2007. Ich halte die 54. Auflage aus dem letzten Jahr in der Hand. Beachtlich! Wieder mal ein Bestseller, den ich relativ spät gelesen habe.

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