Messianische Juden
(Die folgenden Zeilen stammen aus Hirschberg, Peter, Die bleibende Provokation -Christliche Theologie imAngesicht Israels, Neukirchen-Vluyn 2008, 83-85. Die hier angegebene Zahl der messianischen Juden in Israel ist zu gering angesetzt. Es sind vermutlich 3000-5000, wenn man von den nicht-jüdischen Mitgliedern messianischer Gemeinden absieht. Außerdem ist zu bedenken, dass es inzwischen auch in Deutschland knapp 1000 messianische Juden gibt. Dazu s. Stefanie Pfister, Messianische Juden in Deutschland. Eine historische und religionssoziologische Untersuchung, Dortmund 2007)
Heute gibt es in Israel gut 2000, in den USA vielleicht einige Zehntausend – manche behaupten 100.000 – messianische Juden. Die Selbstbezeichnung „messianische Juden“ bringt zum Ausdruck, dass Judesein und Christusglaube für diese jüdischen Gruppen keine Gegensätze sind. Sie sehen darin zwei Aspekte einer Glaubensweise, die sich nicht voneinander trennen lassen, sondern einander komplementär ergänzen. So wie die ersten Juden-„christen“ in Jesus die Erfüllung ihrer jüdischen Identität sahen, so will man auch heute noch christusgläubig sein, ohne sein Judentum aufzugeben. Man kann natürlich einwenden, dass es nicht so einfach ist, direkt an die neutestamentliche Zeit anknüpfen zu wollen, da sich Christentum und Judentum schließlich nun einmal zu zwei getrennten Religionen entwickelt haben. Dennoch wird man den generellen Versuch, Judentum und Christusglaube zusammenzudenken und zusammenzuglauben, nur begrüßen können. Es wäre ja fatal, wenn die heiden-christlichen Kirchen überall in der Welt darauf drängen, dass die einheimischen Kir-chen ihren eigenen kulturellen Weg finden, man dies aber christusgläubigen Juden verbieten wollte.
Theologisch spannend ist bei messianischen Juden, dass hier das Evangelium nicht den Weg in eine ihm ursprünglich fremde Kultur findet, sondern in die Kultur und Religion zurückkehrt, aus der es ursprünglich kam. Deshalb stellen sich in der messi-anischen Bewegung manchmal auch ganz ähnliche Probleme wie im Neuen Testa-ment. Für nicht wenige zum Beispiel ist die Frage, ob und inwieweit man als messia-nischer Jude das jüdische Gesetz oder zumindest Teile davon halten soll, durchaus relevant, wenn auch die Antworten darauf sehr unterschiedlich ausfallen. Während einige wenige sich in ihrer Lebens- und Glaubenspraxis durch nichts von orthodoxen Juden unterscheiden, außer dass sie eben bei aller Toraobservanz Christus als Erfül-lung mitglauben und mitdenken , nähern sich die meisten eher der Frömmigkeit und Theologie eines evangelikalen oder charismatischen Christseins amerikanischer Provenienz an und praktizieren eine sehr selektive Toraobservanz (Sabbatheiligung, Feste, etc.). Am äußersten Ende der Skala wird messianisches Judesein fast nur noch im Sinne eines spezifischen Glaubensbewusstseins verstanden (Jesus ist die Erfüllung jüdischer Verheißungen), ohne dass dem materialiter noch viel an jüdischen Riten oder Gesetzen entspräche.
Die idealtypische Vorstellung, Christusglaube als Vollendung des Judentums zu denken, gibt es in der Praxis also in zahlreichen Varianten. Betrachtet man die heutigen messianischen Juden als eine Schnittmenge zwischen Judentum und Christen-tum, dann tendieren die einen mehr zum Christentum, so dass im Extremfall das Judentum zur Makulatur wird, während die anderen so jüdisch leben, dass man in bestimmten Ausnahmefällen fragen kann, wo das spezifisch Christliche geblieben ist. Insgesamt gesehen ist man noch weit von der Ausbildung einer theologisch reflektierten und gleichzeitig lebbaren Identität entfernt. Vieles ist im Fluss, und es ist eine durchaus offene Frage, ob es jemals gelingen wird, eine tragende eigene Identität zu entwickeln. Klar, dass dies wesentlich auch davon abhängen wird, ob Juden und Christen bereit sind, diese Mischform zu akzeptieren. Das orthodoxe Judentum würde diese Frage im Augenblick deutlich verneinen, ja es sieht in den messianischen Juden nicht selten zu bekämpfende Feinde, während reformorientierte und natürlich erst recht säkulare Juden hier weit weniger Probleme haben und eine größere Offenheit an den Tag legen. Auch im christlichen Bereich ist nicht wirklich geklärt, ob man gewillt ist, sich mit dieser oft sehr diffusen jüdischen Inkulturation des Evange-liums anzufreunden. Sind in den evangelikal-charismatischen Gruppierungen messianische Juden schon lange ein wichtiger Aspekt des eigenen Glaubensverständnisses, so hat man in kirchlich-liberalen Kreisen mit messianischen Juden oft große Probleme. Weniger wegen der sich dort findenden „Häresien“, sondern mehr, weil diese Gruppen durch ihre evangelistische Tätigkeit unter ihren jüdischen Glaubensgenossen den sich gerade im Aufbau befindlichen christlich-jüdischen Dialog vehement stören.
Trotz aller offenen und teils auch schwierigen Fragen gehören die messianischen Juden m. E. wesentlich zur christlichen Ökumene dazu. Sie stehen für den Ursprung des christlichen Glaubens innerhalb des Judentums, auch wenn sie nicht einfach in direkter Kontinuität zum jüdischen Urchristentum begriffen werden können. Sie aus-zugrenzen, nur weil uns manches an ihrer Denk- und Glaubensweise anstößig er-scheinen mag, ist eine Verleugnung unserer jüdischen Wurzeln und damit eine Ver-leugnung des Gottes, der uns in Jesus Christus nahegekommen ist. Dies wäre die Fortsetzung eines Antijudaismus, der sich in der Vergangenheit u. a. darin zeigte, dass getaufte Juden regelrecht ihrem Judentum abschwören mussten, um Christen werden zu können. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die folgenden Sätze von Osten-Sacken: „Die jüdischen Partner in diesem Gespräch sollten misstrauisch werden, falls Christen begännen, sich von neuem der Judenchristen in ihrer Mitte zu schämen oder sie theologisch zu opfern. Denn Theologie und Kirche werden in ihrem Verhältnis zum jüdischen Volk stets (nur) von derselben Güte sein wie im Verhältnis zu den judenchristlichen Gliedern am Leibe Christi. Dies lässt sich theo-logie- und kirchengeschichtlich zeigen, aber nirgendwo sonst so wie in Röm. 9-11.“ Außerdem: Manches, was uns an ihrer Identität heute als problematisch er-scheint, ist auch Ergebnis der zweitausendjährigen Vergegnungsgeschichte (M. Bu-ber) zwischen Christentum und Judentum, so dass Umkehr in diesem Bereich nur eines heißen kann: Messianischen Juden, so weit es an uns liegt, solidarisch beizu-stehen und ihnen zu helfen, zu einer eigenen Identität zu finden.
Was den christlich-jüdischen Dialog angeht, so üben messianische Juden im evangelikalen Bereich des christlichen Glaubens trotz mancher Problematiken und Unge-reimtheiten schon jetzt eine wichtige Brückenfunktion aus. Ohne sie wäre die Über-zeugung von der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes, wie immer man sie im Detail dann auch versteht, in solchen Kreisen nicht derart stark verbreitet. Auch im stärker traditionell-kirchlichen Bereich ist dies hier und da der Fall. Man denke nur an den Einfluss, den der bereits verstorbene Judenchrist Daniel Rufeisen in der katholischen Kirche mit der Gründung einer hebräischen Gemeinde ausgeübt hat oder an vergleichbare Gestalten in den lutherischen Kirchen . Eine solche Brücken-funktion könnte, je nach Entwicklung der Bewegung, in Zukunft noch viel bedeutsamer werden.
Solidarität mit messianischen Juden darf allerdings auch nicht unkritisch sein. Vor allem ein Aspekt ist hier zu bedenken: Viele religiöse Juden haben Angst davor, dass Christen über die messianischen Juden neu versuchen, Israel zu missionieren. Tatsächlich geschieht dies in evangelikal-charismatischen Kreisen nicht selten. Diese Instrumentalisierung von Judenchristen ist zu unterlassen, weil eine organisierte Judenmission aufgrund der Überzeugung von der bleibenden Erwählung Israels klar und eindeutig abzulehnen ist. So sehr das Christuszeugnis unaufgebbarer Bestandteil heiden- und judenchristlichen Glaubens ist und auf diese Weise auch immer wieder einzelne Juden den Zugang zu Christus finden werden, das christlich-jüdische Verhältnis insgesamt darf aufgrund der oben dargelegten Argumente nicht als Einbahnstraße verstanden werden. Es ist ohne Wenn und Aber zu akzeptieren, wenn Juden in Treue zu ihrem und unserem Gott die Christusfrage offenlassen.