„Nehmen wir die Bibel wörtlich oder nehmen wir sie ernst?“ – kontroverse Israeltheologien im Neuen Testament und ihre theologische Deutung am Beispiel von Röm 9-11 und der Johannesoffenbarung

„Nehmen wir die Bibel wörtlich oder nehmen wir sie ernst?“ Dieser Satz suggeriert, dass ein wörtliches Verständnis der Bibel nicht unbedingt ein der Bibel angemessenes Verständnis ist, und ich vermute mal, dass Sie alle diesen Satz gut unterschreiben könnten. Keiner von uns wird, nur um nur ein bekanntes Beispiel herauszugreifen, der Überzeugung sein, dass eine Frau im Gottesdienst nicht das Wort ergreifen darf, nur weil Paulus aus welchen Gründen auch immer den Korinthern geschrieben hat, dass das Weib in der Gemeinde schweigen soll. Wir bemühen uns die Bibel kritisch zu lesen, nicht im Sinn einer destruktiven Kritik, sondern im ursprünglichen Sinn des Wortes, differenzierend-unterscheidend, jedenfalls so, dass wir einen Unterschied machen zwischen Aussagen, die für uns heute noch verbindlich sind und Aussagen, die es vielleicht einst waren, heute aber nicht mehr sind, und eventuell auch solchen, die wir generell ablehnen.

Ein solches kritisches Lesen der Bibel muss nun andererseits aber auch auf der Hut davor sein, eine willkürliche Sache zu werden. Es wäre dem Anspruch der Bibel völlig unangemessen, wenn wir uns nur das heraussuchen würden, was uns heute gefällt. Die Zeugen der Bibel erheben einen Wahrheitsanspruch, bezeugen Gottes Offenbarung, und diese wird uns in unserem Welt- und Selbstverständnis immer auch herausfordern und in Frage stellen. Deshalb müssen wir immer sehr gut überlegen, ob wir etwas in der Bibel ablehnen, weil es unser Lebenskonzept durcheinander bringt oder ob wir es ablehnen, weil wir der festen Überzeugung sind, dass es nicht mit dem konform geht, was wir für evangeliumsgemäß halten. Die Frage ist, ob es Kriterien gibt, die uns helfen können hier eine theologisch verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen. Manche Theologen haben behauptet, dass es so etwas wie eine Mitte der Schrift gibt, und wir von dieser Mitte her die Schrift auslegen müssen. Für Martin Luther war diese Mitte das „was Christum treibet“. Aber lassen wir diese Frage vorerst noch offen, halten wir vorerst nur fest, dass wir für eine wirklich kritische Bibellektüre auch selbstkritische Kriterien brauchen.

All das, was ich soeben gesagt habe, ist für viele inhaltliche Fragen relevant, die uns heute beschäftigen. Es ist aber eben auch für die Israeltheologie relevant, die uns als Menschen, die im christlich-jüdischen Dialog engagiert sind, besonders am Herzen liegt. Denn leider oder Gott sei Dank gibt es im Neuen Testament nicht nur eine, sondern sehr verschiedene Israeltheologien, und diese stimmen nicht nur im Stil, sondern auch im Inhalt oft nicht miteinander überein. Die spannende Frage ist deshalb: An welcher Israeltheologie orientieren wir uns heute und wie begründen wir das?

Wenn man die unzähligen Dokumente und Verlautbarungen studiert, die es zum christlich-jüdischen Dialog gibt, dann ist auffällig, dass hier dem Paulus in Römer 9-11 eine besondere Spitzenposition zukommt. Er wird durchgängig zitiert, und ein Grundbekenntnis des christlich-jüdischen Dialogs, nämlich das der bleibenden Erwählung Israels, wird meist mit Römer 9-11 begründet. Die Frage ist nur, ob dies redlich ist? Wird damit eine neutestamentliche Israeltheologie verabsolutiert und alle anderen ausgeblendet? Das sind übrigens auch die Fragen, die im Zusammenhang mit der geplanten Verfassungsergänzung unserer Kirche um einen „Judentumsartikel“ immer wieder gestellt worden sind. Nun mag es ja sein, dass eine solche Schwerpunktsetzung, wie wir sie auch in der neuen Verfassungsänderung vorgeschlagen haben, nötig und sinnvoll ist, aber dann muss man sich Rechenschaft geben, mit welchen inhaltlichen Argumenten sich eine solche Entscheidung begründen lässt.

Ich möchte Ihnen dieses Problem heute Morgen an einer sich von Paulus in manchem doch sehr unterscheidenden Israeltheologie nahe bringen, nämlich der Israeltheologie der Johannesoffenbarung. Ich werde Ihnen diese zuerst einmal vorstellen, um sie dann in einem zweiten Schritt zu Röm 9-11 in Beziehung zu setzen. Ich werde am Ende natürlich auch die sachlich entscheidende Frage stellen, wie wir nun mit dieser Kontroverse umgehen können. Was Röm 9-11 angeht, setze ich voraus, dass Ihnen dieser Text zumindest in Grundzügen vertraut ist, werde also keine zusammenhängende Exegese vorlegen, sondern nur auf die für den Vergleich mit Johannes wichtigen Punkte eingehen. Wenn Sie mich fragen, warum ich die Offenbarung gewählt habe, die für viele ja doch sehr randständig ist, dann zum einen deshalb, weil ich darüber promoviert habe, vor allem aber auch deshalb, weil ich glaube, dass diese Israeltheologie für andere Israeltheologie des NT durchaus repräsentativ ist.

1) Die Israeltheologie der Johannesoffenbarung

Lassen Sie mich mit ein paar ganz allgemeinen Feststellungen beginnen, damit Sie dieses letzte Buch der Bibel ungefähr einordnen können: Die Johannesoffenbarung wurde vermutlich in den 90er Jahren des 1. Jh. in Kleinasien geschrieben. Den Autor der Offenbarung kennen wir mit Namen: Er heißt Johannes. Alle Versuche ihn mit anderen bekannten Johannesgestalten in Kleinasien zu identifizieren, die wir aus den Zeugnissen der Alten Kirche kennen, sind reine Spekulation. Was wir allerdings ziemlich sicher sagen können ist, dass Johannes Jude war und er als charismatischer Wanderprediger vermutlich aus dem syrisch-palästinischen Raum kommt. Seine jüdische Herkunft hat die Offenbarung tief geprägt. Dieses Buch gehört zu den mit am jüdischsten geprägten Schriften des NT. Das zeigt der semitische Sprachstil, das zeigt die Tatsache, dass die Bilder und Texte der Offenbarung aus unzähligen atl. Mosaiksteinen gewoben sind, das zeigt auch die Vielzahl jüdischer Vorstellungen, die hier in einer christlichen Deutung begegnen.
In der Offenbarung ist viel von Verfolgung die Rede. Nun war die Herrschaft Domitians, in der Johannes sein Werk verfasst hat, für Christen zwar eine durchaus schwierige Zeit, weil dieser Kaiser wie kein anderer vor ihm den Kaiserkult förderte – es kam auch zu einzelnen Martyrien –, aber es war (noch) nicht die Zeit einer allgemeinen Verfolgung. Johannes wird in seiner Darstellung deshalb vor allem an zukünftige Entwicklungen gedacht und in Domitian einen ersten Vorboten solcher Entwicklungen gesehen haben. Was ich jetzt schon einmal betont herausstellen möchte: Die Johannesoffenbarung ist ein zutiefst politisches Buch. Das römische Imperium wird als Manifestation der satanischen Macht gesehen. Das Reich Gottes wird erst dann kommen, wenn diese Schöpfung durch den erhöhten und von Gott bevollmächtigten Christus von dieser Macht befreit wurde. Die Christen sind zwar nicht zum gewaltsamen Widerstand aufgerufen, aber sehr wohl zum passiven: Sie sollen durch standhaftes Bezeugen der Christuswahrheit der römischen Macht ins Angesicht widerstehen, auch wenn sie das das Leben kosten sollte.

Aber jetzt zur Israeltheologie des Johannes. Ich beginne mit einigen sehr kritischen Äußerungen gegenüber Juden in den Sendschreiben, die man oft auch als antijudaistisch eingestuft hat. In den Sendschreiben an Smyrna und an Philadelphia (2,8-11; 3,7-13) wird die Synagoge als „Synagoge des Satans“ bezeichnet und den dortigen Juden der Ehrentitel „Judaios“ abgesprochen: „die da sagen, sie seien Juden, aber sind’s nicht“. Wenn man dies liest, dann drängt sich die Frage auf, ob es sich hier um ein quasi dogmatisches Urteil über das nicht an Christus gläubige jüdische Volk handelt, dem generell sein Judesein abgesprochen wird.
Ich wäre mit einem solchen Urteil vorsichtig, und zwar deshalb, weil es einige Indizien gibt, die darauf hinweisen, dass dieses Urteil mit dem konkreten jüdischen Verhalten zu tun haben könnte und jedenfalls nicht nur mit der jüdischen Ablehnung des Christusglaubens als solchem. Folgende Argumente sind hier zu nennen:

Halten wir uns zuerst die Situation der Juden in Kleinasien am Ende des 1. Jh. vor Augen: Die jüdischen Gemeinden haben, nachdem sie lange um ihre Akzeptanz in den hellenistischen Städten gerungen hatten, am Ende des 1. Jh. ein Stadium erreicht, wo man davon sprechen kann, dass ihnen die Integration im Großen und Ganzen gut gelungen ist. Einen Wehrmutstropfen gab es allerdings: Durch den jüdisch-römischen Krieg in Israel rückten aus Sicht Roms auch die Juden in der Diaspora als potentielle Aufrührer in den Blick. Auch wenn die Gefahren eines Aufruhrs sicher nicht allzu groß waren, so musste man aus Sicht Roms den Diasporajuden doch einschärfen, dass sich Aufstand gegen Rom nicht auszahlt. In diesem Zusammenhang gab es eine römische Maßnahme, die infolge des jüdisch-römischen Krieges dieser Intention gedient haben dürfte: Nach der Zerstörung des Tempels mussten Juden, die ihre Steuer bislang an den jüdischen Tempel zahlten, diese fortan an den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom entrichten (fiscus judaicus). Diese Maßnahme war keine wirklich einschneidende Maßnahme im praktischen Leben – dies durfte ganz normal weitergeführt werden – hatte aber doch eine äußerst demütigende Wirkung. Man hielt den Juden vor Augen, dass Rom keinen Abfall duldet und antirömische Maßnahmen streng ahnden wird. Ich vermute, dass diese einschüchternde Maßnahme dazu führte, dass Juden in der Diaspora noch deutlicher zeigen mussten, dass sie auf Seiten Roms standen und die ihnen zugestandene Autonomie in Sachen Religion auch zu Recht verdient haben.
Diese Loyalitätsbemühungen gegenüber Rom werden dazu beigetragen haben, dass man noch stärker bemüht war, sich von romfeindlichen Elementen abzugrenzen. Und solche romfeindlichen Elemente waren natürlich in erster Linie die Heiden- und die Judenchristen. Denn das Christentum war in römischen Augen ein abscheulicher Aberglaube (superstitio) und zudem verehrten die Christen einen als politischen Aufrührer gekreuzigten Juden als ihren Messias. Diese jüdische Abgrenzung konnte für Judenchristen fatale Konsequenzen haben. Denn wurden sie aus der Synagoge ausgestoßen, dann gingen sie des Schutzes der Synagoge verloren, z.B. des jüdischen Vorrechts, nicht am Kaiserkult teilhaben zu müssen. All das wird das jüdisch-christliche Verhältnis erheblich zum Negativen hin beeinträchtigt haben.

Diese Loyalität gegenüber Rom und die damit verbundene Distanzierung von den Christen sieht der Seher nicht nur deshalb negativ, weil sie den Christen Leid bringt, sondern, weil er darin auch ein für einen frommen Juden unerträgliches Bündnis mit der heidnisch-römischen Macht erblickt. So wird das Wort „Satan“ in der Offenbarung mehrfach mit dem römischen Kaiserkult assoziiert (z.B. 12,9 und 12,13, wo der Tempel des Augustus und der Roma in Pergamon als Thron Satans qualifiziert wird). Wenn deshalb die Synagoge als Synagoge des Satans bezeichnet wird, dann wird dies auch damit zusammenhängen, dass sich Juden in den Augen des Sehers zu sehr mit dem heidnischen Rom verbündet haben, sie also auf der Seite des Satans zu stehen kommen. Direkt oder indirekt unterstützen sie heidnischen Götzendienst, und dies wiederum hat zur Folge, dass sie sich von den Christen distanzieren.

Wenn diese historischen Überlegungen stichhaltig sind, dann hätte Johannes die Synagoge zwar scharf kritisiert, aber er hätte es nicht unwesentlich aufgrund jüdischer Argumente getan. Er hätte ihnen ihren Götzendienst, ihre hohe Assimilationsbereitschaft an das heidnische Rom vorgeworfen, während er in den Christen gerade diejenigen sieht, die sich „gut jüdisch“ diesem Rom verweigern, es jedenfalls seiner Überzeugung nach tun sollten. Dabei spielt der Christusglaube für ihn natürlich durchaus eine Rolle. Aber eben die Rolle, dass er anscheinend hilft den jüdischen Monotheismus ganz ernst zu nehmen und bezogen auf Rom die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Zugespitzt formuliert: Es zeigt sich, dass der Christusglaube jüdischem Selbstverständnis zutiefst gerecht wird und er auch deshalb der wahre Glaube ist.
Es ist also nicht so, dass am Anfang ein dogmatisches Urteil steht, aufgrund dessen Juden enterbt werden, sondern jüdisches Verhalten und die Verweigerung des Christusglaubens aufeinander bezogen werden und sich gegenseitig interpretieren. Man mag sagen: Das ist ja nur ein marginaler Unterschied zur klassischen Substitutionstheorie, nach der Israel durch die Kirche ersetzt wurde. Aber ich halte es für sehr elementar, dass Johannes hier jüdische Argumente in Anschlag bringt, weil es ihm als christusgläubigen Juden um die Frage geht, wie glaubwürdiges Judesein in seiner Zeit konkret auszusehen hat. Aus dieser Perspektive geht es auch in der Johannesoffenbarung durchaus um einen innerjüdischen Streit und deshalb wäre es verfehlt, Johannes einfach unter die Kategorie Substitutionstheorie einzuordnen, die ja immer ein Urteil darstellt, das von außen über das jüdische Volk getroffen wird. Außerdem ist zu bedenken, dass der Seher diese Kriterien auch an die Christen anlegt. Auch die Christen haben keinen gesicherten Heilsstatus. Wenn sie nicht umkehren, dann werden ihre Leuchter, wie es in den Sendschreiben anschaulich heißt, umgestoßen. Wenn man sich die Lehren, von denen sich die angesprochenen Christen abwenden sollen, genauer ansieht, dann handelt es sich vermutlich um Auffassungen, die dem römisch-hellenistischen Lebensstil wesentlich positiver gegenüberstehen als Johannes. Kurz: Christen und Juden werden an den gleichen ethischen Maßstäben gemessen: an ihrem Verhältnis zum gottlosen römischen Imperium.

Ein zweiter sehr wichtiger Aspekt der Israeltheologie des Johannes ist sein Gottesvolkverständnis. Ich möchte dies exemplarisch an Offenbarung 7 darstellen, wo Johannes das gerettete endzeitliche Gottesvolk darstellt. Johannes hat solche Darstellungen immer wieder in sein apokalyptisches Gemälde eingeschoben, um die verfolgten Christen zu trösten, um ihnen deutlich zu machen, dass Gott sie vor allen endzeitlichen Gefahren schützen wird. Ich lese Ihnen den Text einmal in seiner Gesamtheit vor: Offb 7, 1-19!

In Offb 7 beschreibt Johannes das endzeitliche Gottesvolk, das von Gott erwählt wurde (7,1-8) und der Vollendung (7,9-17) entgegengeht. Auffällig ist, dass dieses Gottesvolk aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven beschrieben wird. In 7,4-8 wird zuerst erzählt, dass die, die zu diesem Gottesvolk gehören, versiegelt, also als Gottes Eigentum markiert werden. Insgesamt sind es 144.000, 12.000 aus jedem der zwölf Stämme Israels. Die Zahl 144.000 ist dabei eine Symbolzahl, die die von Gott gewollte Vollzahl zum Ausdruck bringt. Auffällig ist die jüdisch-partikularistische Färbung dieses Abschnitts, die vor allem dadurch entsteht, dass zahlreiche alttestamentlich-frühjüdische Traditionen von der endzeitlichen Vollendung des Gottesvolkes aufgenommen werden. Diese steht in einem merkwürdigen Gegensatz zur zweiten Perspektive (7,9ff), in der dieses Gottesvolk im Zustand der Vollendung beschrieben wird und plötzlich absolut universale Kategorien zum Zuge kommen („eine Menge aus allen Nationen, Stämmen, Völkern und Sprachen“). Nun könnte man diesen Unterschied so auslegen, dass im ersten Abschnitt nur die Judenchristen gemeint sind, im zweiten dagegen die Heidenchristen. Das wäre jedoch schwierig, weil ja nur die Versiegelten gerettet werden und für Johannes klar ist, dass beide, Juden- und Heidenchristen, durch Christus gerettet sind. Es werden also Unterschiede markiert, ohne diese absolut zu setzen. Wenn dem aber so ist, dann bleibt m. E. eigentlich nur eine Möglichkeit der Interpretation, nämlich die, den Text heilsgeschichtlich zu lesen. Der Seher will herausstellen, dass die Sammlung des endzeitlichen Gottesvolkes im jüdischen Milieu beginnt, dieses in Israel also gleichsam seinen Ursprung und seine Basis hat, es sich dann aber – gut alttestamentlich im Sinne der Völkerwallfahrt – zu den Völkern hin ausweitet, so dass erst diese das Gottesvolk zur Fülle und Vollendung bringen. Vielleicht will Johannes durch den schroffen Übergang von der partikularen in die universale Vorstellungswelt sogar eine Art Überraschungseffekt auslösen. Der Leser, der in 7,4-8 denkt, hier könnte es nur um Juden gehen, wird vom zweiten Teil her plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass hier Menschen aus allen Völkern dabei sind. Vom Ende her schaut er zurück und wird so zur Einsicht geführt, dass das Ziel Gottes mit Israel von Anfang an in einer Öffnung für die Völker bestand. Das wahre Gottesvolk ist nach Johannes also das zu den Völkern hin geöffnete christusgläubige Israel. Die Verankerung in Israel durch die Basis der Judenchristen ist dabei genauso konstitutiv wie die Öffnung hin zu den Völkern. Die Frage, um wen es sich in 7,4-8 handelt, ist deshalb so zu beantworten, dass Heidenchristen im Prinzip zwar schon mitgedacht sind, aber eben nur implizit, da sich ihre Partizipation erst zeigt, wenn man bis zum Ende gelesen hat.

Daraus ergeben sich nun folgende Konsequenzen:

• Das wahre Israel ist das christusgläubige Israel, das sich zu den Völkern hin geöffnet an. Ekklesiologisch betrachtet bedeutet dies: Die Kirche wird von Israel her gedacht. Eine „Kirche“, ein Gottesvolk ohne jüdisches Fundament, also eine rein heidenchristliche Kirche, wäre für Johannes wohl undenkbar.
• Juden, die nicht an Christus glauben, das ist die andere Konsequenz, würden für ihn nicht mehr zum Gottesvolk dazugehören. Eine klassische Enterbungslehre liegt aber dennoch nicht vor. Im Sinne des Johannes müsste man eher sagen: Die Verheißungstreue Gottes zeigt sich in den Judenchristen. In ihnen findet die Erwählung Israels ihre Fortsetzung. Juden, die nicht an Christus glauben, enterben sich selbst, indem sie sich von dieser Größe distanzieren.

Wenn dem so ist, dann stellt sich die Frage, ob Johannes überhaupt noch eine Hoffnung für nicht an Christus gläubige Juden hat, so wie Paulus, der davon ausgeht, dass am Ende ganz Christus gerettet werden wird. Diese Frage ist leider nicht klar zu beantworten. In der Vision des neuen Jerusalem am Ende wird zwar behauptet, dass Gott mit Israel und den Völkern zu seinem Ziel kommt. Das neue Jerusalem besteht aus dem endgültig in Christus vollendeten Gottesvolk, an dem die Völker teilhaben, so dass es durchaus sein könnte, dass hier noch viele Juden im Laufe der Zeit dazu gekommen sind. Aber ob das tatsächlich so ist, wird nicht gesagt. Die Vision vom neuen Jerusalem enthält als Hoffnungstext so etwas wie einen „Überschuss“, aber wie man sich das vorzustellen hat, wird nicht klar ausgesprochen. Gott wird mit Israel ans Ziel kommen, aber es wird nicht gesagt, was das bezogen auf den einzelnen Juden, gar bezogen auf den Juden bedeutet, der nicht an Christus glaubt. Hier sehe ich den wichtigsten Unterschied zu Paulus.

2) Römer 9-11 und das Zeugnis der Johannesoffenbarung und die Frage, was für uns heute gültig ist …

Ich skizziere zuerst kurz Gemeinsamkeiten und Unterschiede:

• Für Johannes und für Paulus ist die Verwurzelung der Kirche in Israel entscheidend. Für Johannes ist der Grundstock des endzeitlichen Gottesvolkes das an Christus glaubende Israel. Paulus unterscheidet nun ebenfalls zwischen Israel und Israel, indem er die christusgläubigen Juden als die versteht, die Gott übrig gelassen hat, wie die 7000, die zur Zeit Elias ihre Knie nicht vor Baal gebeugt haben (Röm 11). Die anderen Juden dagegen sind von Gott verstockt. Dieser judenchristliche Rest, zu dem Paulus sich selbst zählt, ist für ihn ein Argument dafür, dass Gott sein Volk Israel nicht in Bausch und Bogen verstoßen haben kann. Hier ist also eine gemeinsame Linie zwischen den beiden zu erkennen.
• Der große Unterschied zu Paulus besteht nun freilich darin, dass Paulus mit dieser Argumentation allein nicht zufrieden ist. Es genügt ihm nicht, dass die Verheißungstreue Gottes sich nur in den Judenchristen realisiert. Er fragt: Was ist mit den anderen, die nicht an Christus glauben? Im Nachdenken über diese Frage kommt er dann zu dem Ergebnis, dass aufgrund des Vorrangs der göttlichen Verheißungstreue gegenüber den Vätern Israels, Gott auch an der Erwählung des nicht an christusgläubigen Israel festhält, bis zu dem Punkt, dass er behauptet, dass am Ende ganz Israel gerettet werden wird, und zwar durch den aus Zion kommenden Erlöser und nicht durch christliche Missionsanstrengungen. Auch bei Paulus wird man nicht sagen können, dass die bleibende Erwählung eine Heilsgarantie für alle Juden ist – ein solches Urteil maßt sich auch ein Paulus nicht an – aber man wird vielleicht doch sagen können, dass Gott mit Israel einen ganz eigenen Weg hat, der zum Heil und zur rettenden Christuserkenntnis führt, einen Weg, der jedenfalls nicht zwingend voraussetzt, dass nur die Juden gerettet werden, die im Laufe ihres Lebens zu einem bewussten Christusbekenntnis finden.

Damit stellt sich für uns die Frage, wie wir mit diesem Unterschied theologisch redlich umgehen? Ich möchte dazu zweierlei festhalten:

1) Für mich hat Paulus in Röm 9-11 theologische Priorität, und das nicht nur, weil seine Haltung im christlich-jüdischen Dialog heute eher opportun ist als die des Sehers, sondern, weil ich in seinem theologischen Urteil über Israel einen authentischen Ausdruck christlicher Rechtfertigungslehre sehe, und diese für mich tatsächlich so etwas wie die Mitte der Schrift ist. Es geht um die Frage, worauf ich mich vor Gott berufen kann, wie ich, um das altmodische Wort einmal ins Gespräch zu bringen, ich selig werde. Wir Christen hoffen darauf, dass Gott an uns festhält trotz allem: trotz unserer persönlichen Schuld, trotz unseres kollektiven Versagens als Kirche. Wenn wir das aber für uns gelten lassen, wie können wir dann bei Juden so einfach sagen, dass Gott sie aufgrund ihres Unglaubens fallen lässt. Entweder es kommt vor allem auf unseren Gehorsam an oder auf die Treue und Liebe Gottes, wenn aber zweites gilt, dann bitte für beide, für Christen und für Juden. Das ist keine automatische Seligsprechung des jüdischen Volkes, aber es die Überzeugung, dass Gott mit Juden einen ganz eigenen Weg gehen kann und sie aufgrund ihrer Verweigerung des Christusglaubens nicht einfach außen vor sind.
Wenn ich Johannes heute vor mir hätte, dann würde ich ihn fragen, wie er denn mit der Tatsache umgeht, dass es in bestimmten Zeiten der Kirchengeschichte das judenchristliche Fundament, das für ihn die Verheißungstreue Gottes besiegelt, nicht mehr gab, das die Judenchristen allenfalls noch einen außerhalb der Kirche bestehenden Restbestand darstellten. Kann eine solche, fast rein heidenchristliche Kirche, noch als Argument für die Verheißungstreue Gottes gelten. Ich sehe nur zwei Optionen. Entweder hätte Johannes unter solchen Umständen seinen Glauben an die göttliche Verheißungstreue aufgeben müssen, was ich mir nicht vorstellen kann, oder er wäre ins „Lager“ des Paulus übergelaufen und hätte vielleicht doch den Gedanken zu denken gewagt, dass Gottes Verheißungstreue auch dem nicht an christusgläubigen Israel gilt.

2) Obwohl Paulus für mich diese Priorität hat, möchte ich auch die Worte des Sehers ernst nehmen, vor allem eines möchte ich ernst nehmen, seinen ethischen und theologischen Radikalismus, hinter dem ein tiefer jüdischer Ernst steht. Johannes geht es um einen Glauben, der die Wirklichkeit dieser Welt ernst nimmt, um einen Glauben, der um Gerechtigkeit kämpft, der sich nicht mit theologischen Spekulationen begnügt, sondern im Kampfplatz der Geschichte seinen Mann oder seine Frau steht. Vor allem ist er herrlich unideologisch: Er setzt an Christen und Juden die gleichen Maßstäbe an. Vielleicht würde er zu Paulus sagen: „Lieber Paulus, vielleicht hast Du ja Recht, vielleicht umfasst die Verheißungstreue auch all die Juden, die sich Christus verweigern und die nach meiner Ansicht ein gottloses Leben führen, aber ich kann das nicht mit der Gewissheit sagen, mit der du es sagst, für mich ist das Hier und Jetzt wichtig. Ich möchte mich nicht in theologische Spekulationen flüchten, sondern ich glaube, dass wir in der Gegenwahr den Glauben radikal leben und gegenüber anderen vertreten müssen. Das rechte Tun ist mir wichtiger als die theologische Lehre.“
Wie gesagt, Paulus ist mir näher als der radikale Johannes, aber ich frage mich schon auch manchmal, ob ein zu stark betonter Paulus nicht auch die Gefahr einer Ideologisierung des christlich-jüdischen Verhältnisses in sich trägt, dass wir zu schnell sagen: Israel ist erwählt, alles ist in Ordnung, und deshalb brauchen wir nicht mehr gemeinsam um die Wahrheit ringen. Was ich meine, ist, dass wir das Verhältnis zum Judentum manchmal vielleicht zu statisch beschreiben und deshalb die nötige und für beide heilsame Dynamik verloren geht. Ja, ich glaube daran, dass auch das nicht an Christus gläubige Israel von Gott erwählt ist. Aber was das eigentlich bedeutet, das ist m. E. noch lange nicht klar. Die Erwählung Israels markiert für mich die Erkenntnis, dass Gott mit Israel weiter unterwegs ist, dass Gott Israels Geschichte zur Vollendung bringen wird, dass es sich bei Israel um ein für uns nicht auslotbares Geheimnis handelt. Diese Einsicht darf aber eben gerade nicht dazu führen, dass wir meinen, alles wäre nun in der richtigen Schublade. Nein, gerade das Wissen um das besondere Geheimnis Israel fordert uns dazu heraus, immer wieder neu den empathischen, aber auch kritischen Dialog zu suchen. In diesem Dialog werden wir viel vom Judentum lernen können, aber wir werden uns mit unseren teils auch kritischen Fragen einbringen müssen: um unsertwillen und um Israels willen. Täten wir das unter Berufung auf Röm 9-11 nicht, dann ständen wir tatsächlich in der Gefahr, uns aus der realen Geschichte zurückzuziehen.
Sie merken: Vielleicht mehr Fragen als Antworten, aber vielleicht ist es genau das, worum es geht, dass wir uns von der Schrift her immer wieder neu befragen lassen, um im Gespräch mit ihr, mit Gott und nicht zuletzt auch miteinander neue Wege in die Zukunft zu entdecken.

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31. Januar 2022

Jesu Weg und unser Weg - eine Pilger- und Wanderreise auf Jesu Spuren

Sie fahren gerne im klimatisierten Reisebus durch exotische Länder, um nur ab und zu für genau getaktete Besichtigungen auszusteigen? Sie finden es zu anstrengend, sich auch mal selbst auf den Weg zu machen, um im Gehen die Landschaft wirklich unter die Füße zu bekommen und neue Erfahrungen zu machen? Sie wollen alles sehen, was zu sehen ist, auch wenn Sie dabei kaum noch aufnahmefähig sind? Sie interessieren sich für Religion und Theologie, aber haben kein so großes Interesse daran, über Glaubensfragen mit sich selbst oder anderen Menschen ins Gespräch zu kommen? … Wenn das so ist, dann würde ich Ihnen von meiner Pilgerreise nach Israel/Palästina dringend abraten. Im anderen Fall kucken Sie sich mein Angebot gerne mal an …

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5. April 2021

„Das Café am Rande der Welt“ und die Geschichte von den Emmausjüngern

Gestern habe ich ein kleines Büchlein gelesen: „Das Café am Rande der Welt“, von John Strelecky. Ein Bestseller! Deutsche Erstausgabe: 2007. Ich halte die 54. Auflage aus dem letzten Jahr in der Hand. Beachtlich! Wieder mal ein Bestseller, den ich relativ spät gelesen habe.

Wie auch immer. Ich fand das Buch anregend. Nicht so sehr wegen seines Inhalts. Den habe ich einfach schon zu oft gehört und gelesen in der immer inflationärer werdenden Lebensratgeber-Literatur. Er heißt auf den Punkt gebracht: „Lebe dein Leben, und zwar jetzt – und lass dich nicht für blöd verkaufen von denen, die dir durch ihre oft materiellen Glücksverheißungen das Blaue vom Himmel versprechen.“ In diesem Buch wird übrigens sogar ein Kürzel für den Sinn des Lebens gefunden, und das heißt: „ZDE“ = „Zweck der Existenz“. Diesen ganz individuellen „ZDE“ gilt es zu finden und zu leben. Irgendwie natürlich alles richtig, aber auch ein wenig banal, vor allem: wenn das bloß immer so einfach wäre. Viktor Frankl, der bekannte Psychotherapeut aus Österreich, hat sich dieser Aufgabe übrigens schon vor längerer Zeit auf etwas höherem Niveau gestellt. Er nannte das Logotherapie. Eine Therapie, die den Menschen individuell helfen soll, ihren spezifischen Lebenssinn zu finden, also das, wofür sie da sind. Was wiederum eine der drei Fragen ist, mit denen der Besucher dieses eigenartigen Cafés auf der Speisekarte konkfrontiert wird: „Wozu bin ich da?“ Aber lassen wir das! Wie gesagt, was mir gefallen hat, ist weniger der Inhalt. Es ist vor allem die Rahmengeschichte, und die ist folgendermaßen konstruiert:

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Wie Corona unsere Gesellschaft verändert

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„Corona ist nicht die Mutter aller Krisen, noch weniger stellt sie die größte Gefahr für die Menschheit dar (das ist und bleibt das ölologische Desaster, das sich mit wachsendem Tempo vollzieht), Corona ist aber vielleicht die aufklärerischste Krise, weil sie die Welt so verlangsamt hat, dass man ihre Bewegungsgesetze besser verstehen kann.“

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