Liebe Gemeinde!
Das Christentum war oft keine tolerante Religion! Kreuzzüge, Inquisition, Ketzerverbrennungen, christlich kaschierter Kolonialismus, all das und noch vieles mehr sind schreckliche Verirrungen, deren wir uns heute nur noch schämen können. Nun werden natürlich viele Christen und Christinnen sagen: Ja, diese Form von christlicher Intoleranz gab es, zweifelsohne, aber das war eben kein eigentliches Christentum, das war ein schrecklicher Missbrauch. Das eigentliche Christentum ist eine Religion der Menschenfreundlichkeit und Liebe. Darauf wiederum wird nun mancher Kritiker sagen: „Das wäre ja schön. Aber stimmt es auch? Ist es nicht vielmehr so, dass bereits das Neue Testament selbst voll von intoleranten Äußerungen ist?“ Und dann schlägt er das Neue Testament auf und zitiert genau unsere heutige Bibelstelle: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Und er fügt hinzu: „Wenn das nicht absolut, ausgrenzend und überheblich klingt, dann weiß ich auch nicht. Es klingt so, wie wenn es nur einen Weg in den Himmel gäbe, nämlich den christlichen, und alle anderen Religionen nur Irrwege sind!“
Wenn wir uns mit dem Thema Toleranz und Christentum beschäftigen, kommen wir deshalb an diesem Jesuswort nicht vorbei. Wir müssen ernsthaft fragen, ob dieses Wort wirklich so gemeint ist, wie unser Kritiker meint, oder ob es da nicht doch noch eine andere Interpretation gibt. Also, machen wir uns mutig ans Werk!
Höchst interessant und aufschlussreich finde ich, in welcher Situation Jesus dieses Wort spricht. Er sagt es nicht in einer Aussendungs- und Missionsrede, die die Jünger dazu motivieren soll, die ganze Welt von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen. Nein, Jesus sagt dieses Wort einer frustrierten und tieftraurigen Jüngerschar, die weiß, dass ihr Herr und Meister bald sterben wird. Diese Jünger haben Angst. Sie haben Angst, dass Jesus sie allein in dieser Welt zurücklässt. Es war doch so wunderbar mit ihm. Er gab ihnen Halt und Orientierung, Mut und Zuversicht. Er hat sie die Liebe Gottes spüren lassen. Und nun droht all das wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Schon allein diese Situation macht es unwahrscheinlich, dass dieses Wort triumphalistisch und überheblich gemeint ist. Jesus will trösten. Er will seine Jünger dazu ermutigen, die Hoffnung nicht zu verlieren. Versuchen wir deshalb noch einmal ganz genau hinzuhören, so wie wenn wir diese Worte das erste Mal hören würden.
Jesus sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich. Eines ist klar: Es geht Jesus darum, dass Menschen zu Gott kommen, zu einem Gott, der sie wie ein Vater oder eine Mutter unendlich liebt. Jesus weiß: Nur wer aus der Liebe Gottes schöpft, kann sich annehmen, kann innerlich stark werden, und kann aus diesem Gefühl der Zuversicht heraus, aus diesem Urvertrauen heraus dann auch sein Leben mutig und gelassen in Angriff nehmen. Aber wie kommt man zu diesem Gott? Wie kann man ihn finden?
Auf diese Frage sagt Jesus: Ich, ich selbst bin der Weg zu Gott! Das ist eine Antwort, die ungeheuerlich ist, die eingeschlagen haben muss wie ein Blitz. Jesus ist doch ein Mensch. Wie kann er so etwas sagen? Sicher, ein Mensch kann trösten und ermutigen, kann uns ungeheuer viel geben, aber unsere letzten Sehnsüchte stillen und erfüllen, so dass wir sagen können „Jetzt ist alles gut“, das kann kein Mensch. – Es sei denn, es gäbe einen Menschen, der so intensiv mit Gott verbunden ist, dass man sagen könnte: In ihm und durch ihn ist Gott selbst zu uns gekommen. Ein solcher Mensch wäre natürlich nicht einfach Gott, aber es wäre ein Mensch, mit dem Gott sich so vereinigt hätte, dass er wie eine Laterne ist, durch die uns das göttliche Licht anstrahlt. – Genau so, sagt Jesus, ist es. Ich selbst bin dieser Mensch. Und dann schaut er seine Jünger an und sagt: „Warum habt ihr euch denn mir angeschlossen? Weil ich euch Reichtum, Karriere und menschlichen Erfolg versprochen habe? Garantiert nicht, denn menschlich gesprochen bin ich ein Niemand, ein unbedeutender Galiläer. Nein, ihr habt euch mir angeschlossen, weil ihr durch mich etwas von dieser wunderbaren göttlichen Liebe gespürt habt. – Nun gehe ich weg, und ihr habt Angst, dass damit alles „aus“ ist. Aber überlegt mal: Wenn all das echt war, wenn euch in mir und durch mich wirklich der lebendige Gott begegnet ist, kann es dann sein, dass man diese göttliche Liebe auslöschen kann, indem man mich auslöscht. Ist ein Pontius Pilatus stärker als Gott? Deshalb: Vertraut der Liebe, die euch Gott durch mich geschenkt hat, vertraut darauf, dass Gott euch durch mich seine Liebe endgültig zugesagt hat. Glaubt mir, am Ende wird alles gut werden.
Wenn man all das bedenkt, dann ist zweierlei auffällig. Das erste: Jesus erhebt tatsächlichen einen ungeheuren Anspruch. Es gibt deshalb eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder Jesus ist verrückt und überheblich, so dass man ihn am besten gleich in die Psychiatrie steckt. Oder in ihm ist tatsächlich Gott selbst zu uns gekommen. Wenn das zweite aber stimmen sollte, dann hat das nichts mit menschlicher Arroganz zu tun, denn dann ist das Gottes liebende Initiative. Und dass das zweite stimmt, dafür spricht nun wiederum, dass Jesus ein ungeheuer demütiger Mensch war. Er hat sich nicht selbst in den Mittelpunkt gestellt, und dort, wo man ihn auf den Thron setzen wollte, hat er sich zurückgezogen. Es ging ihm um Gott, nicht um sich selbst.
Das zweite ist, dass der Weg, den Jesus seinen Jüngern eröffnen will, kein Weg ist, wo alles von vornherein klar ist, wo es kein Wagnis und kein Abenteuer mehr gibt, es ist ein Weg, der dazu ermutigt, darauf zu vertrauen, dass der Gott, der sich durch Jesus in einer unüberbietbaren Weise uns Menschen geschenkt hat, uns helfen wird, ohne dass wir im Voraus schon immer genau wüssten, wie er das tut. Denken wir nur an die Jünger! Sie haben damals doch noch nicht gewusst, dass Gott Jesus auferwecken wird. Erst im Nachhinein ging ihnen auf, wie Gott seine Wege realisiert. Die Wahrheit, die Jesus ist und die er uns schenken will, ist kein umfassendes Wissenspaket, es ist die Wahrheit der göttlichen Liebe und Treue, die uns in ihm zugesagt wird. Ich weiß, dass manche Christen meinen, mit der Bibel hätte Gott uns ein Buch gegeben, wo auf jede unserer Fragen eine klare Antwort drin steht, eine Art Navi, das ich nur einschalten und entsprechend befolgen muss. Aber die Bibel ist kein Navi, sondern eher ein Kompass. Sie weist uns die Richtung, in die wir gehen sollen, aber nimmt uns eigene Entscheidungen nicht ab: Gott verspricht uns, dass er uns dort, wo wir im Vertrauen auf ihn einen Weg gehen, nicht alleine lässt und er uns im Prozess des Gehens helfen wird zu erkennen, wo es lang geht. Das kennen wir doch als glaubende Menschen: Da brüte ich tagelang über einer Frage, wäge die Argumente hin und her, bis mir der Kopf zerplatzt, diskutiere mit Menschen, lese die Bibel, und das ist wichtig, aber der entscheidende Impuls, der muss mir dann doch von oben geschenkt werden. Freilich, manchmal weiß ich bis zum Schluss nicht, wo es lang geht, muss aber doch eine Entscheidung treffen, und erst, wenn ich ein paar Schritte gegangen sind, merke ich, ob der eingeschlagene Weg richtig war oder nicht. Aber auch wenn er nicht richtig war, ist das kein Unglück. Ein Unglück wird es erst dann, wenn wir gemerkt haben, dass es der falsche Weg ist und trotzdem weitergehen. Kurz: Der Weg, der Jesus ist und zu dem er uns einladen will, ist ein Weg des Vertrauens, und die Wahrheit, die er uns beibringen will, hat nichts mit perfektem Wissen zu tun. Ich kann nur sagen: Gottseidank. Denn wie wachsen und reifen wir denn? Dadurch, dass wir eine göttliche Gebrauchsanweisung befolgen, oder dadurch, dass wir von Gott getragen und begleitet, das Leben in Angriff nehmen und so unsere Erfahrungen machen.
Welche Folgen hat all dies nun für unsere anfängliche Frage nach der Toleranz? Wie sollen sich Christen verhalten, wenn sie mit anderen religiösen oder weltanschaulichen Positionen konfrontiert werden? Ich denke, es gibt nur einen Weg, der dem Evangelium Jesu entspricht, und dieser Weg ist der Weg eines ehrlichen und aufrichtigen Dialogs.
Zu einem solchen Dialog gehört zuallererst: Ich-Sagen, klar die eigene Position bekennen. Wenn ich das als Christ tue, dann werde ich deshalb nicht umhin können zu bezeugen, dass Jesus für mich der ist, in dem Gott in einer letzten und unüberbietbaren Weise gehandelt hat. Das ist der christliche Wahrheitsanspruch, und der ist genauso legitim wie die Wahrheitsansprüche anderer Religionen. Ich würde sogar sagen: Es gehört zur menschlichen Würde, dass wir nach der Wahrheit streben und auch um sie streiten. Der moderne Relativismus, der so tut, wie wenn alles egal und gleich gültig wäre, ist nicht tolerant, sondern würdelos und letztlich menschenverachtend.
Aber zu diesem Dialog, wenn er wirklich von der Liebe Jesu getragen ist, gehört auch das Du-Sagen. Ich will mein Gegenüber ernst nehmen. Ich will begreifen, warum der andere so denkt und glaubt, wie er denkt. Ich will mich in ihn einfühlen, ohne mich selbst aufzugeben.
Das Entscheidende ist nun freilich, darauf zu vertrauen, dass in diesem Prozess Gott selbst uns immer tiefer in die Wahrheit führt, ohne dass wir von vornherein schon wissen, was am Ende dabei rauskommen wird. Da kann es passieren, dass ich tatsächlich bestätigt werde. Es kann aber auch und sogar gleichzeitig passieren, dass ich eine tiefe Übereinstimmung spüre, bis dahin, dass ich das Gefühl habe, dass der andere aus derselben Glaubenswahrheit lebt, die mir wichtig ist, obwohl er dafür ganz andere Worte benutzt. Im Klartext: Ich kann die Erfahrung machen, dass Gott auch mit dem anderen seinen Weg geht. Das hindert mich als Christ nicht daran zu glauben, dass Jesus die letzte Wahrheit ist, aber es macht mich offen dafür, dass das Wirken des Gottes an den ich glaube, nicht auf die Kirche beschränkt ist. Vielleicht darf man den Satz des Johannesevangeliums ja auch umkehren: Nicht nur: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich, sondern auch: „Da wo ein wahrhaftiger Weg erkennbar wird, wo eine authentische Wahrheit laut wird, wo echtes Leben entsteht, da ist auch er.“
Natürlich, das sind meine Erfahrungen und Einsichten, auch ich habe die Wahrheit nicht mit Löffeln gefressen. Aber für mich gibt es jedenfalls einen dritten Weg zwischen einem christlichen Absolutismus und einem modernen Relativismus, und dieser Weg heißt: Mache dich von der Erfahrung der göttlichen Liebe in Jesus getragen auf den Weg, und lass dich überraschen, wohin dich diese Jesuswahrheit schließlich führt. Die Wahrheit Jesu jedenfalls ist keine Wahrheit, die man ein für alle Mal hat, sondern eine Wahrheit, die immer wieder neu gesucht werden will. Durch Jesus ist aus dem dunklen Geheimnis Gottes ein helles Geheimnis geworden, aber ein Geheimnis ist es immer noch, und wird es auch bleiben.
Amen