Jesu Versuchungen - unsere Versuchungen

Liebe Gemeinde!

Wenn wir bei einem Menschen Hilfe suchen, dann erwarten wir uns meist zweierlei! Das erste: Wir erwarten uns Einfühlungsvermögen und Verständnis. Keiner hat Lust, sich kluge Allerweltsratschläge anzuhören, die mit seiner konkreten Situation nichts zu tun haben. Wir sehnen uns nach Menschen, die sich wirklich in unsere konkrete Situation hineinbegeben, die zumindest versuchen, uns in der Tiefe unseres Menschseins zu verstehen. Das zweite: Wir wünschen uns natürlich auch, dass der andere uns irgendwie helfen kann, dass er uns etwas geben kann, an Lebenserfahrung, an menschlicher und auch an geistlicher Weisheit. Der andere darf uns schon auch etwas raten. Aber es muss in unsere Situation hineinpassen und es darf nicht arrogant von oben kommen. Beides auf den Punkt gebracht: Wir sehnen uns nach Einfühlungsvermögen und nach einer Weisheit, die uns hilft, den nächsten Schritt zu gehen.

Wenn wir aus diesem Blickwinkel unseren heutigen Predigttext betrachten, dann könnte man sagen: Gott hat unsere Bedürfnisse und unsere Not gesehen und uns deshalb eine göttlichen „Seelsorger“ an die Seite gestellt. Dieser Superseelsorger ist Jesus Christus selbst.

Ich weiß schon, hier ist nicht direkt von Seelsorge und Psychologie die Rede, aber wenn uns Jesus Christus als unser „Hoherpriester“ vor Augen geführt wird, dann ist letztlich genau das gemeint. Wer oder was ist denn ein Hoherpriester? Ein Hoherpriester ist einer, der aus unserer Mitte stammt, der uns und unsere Probleme kennt und versteht. Gleichzeitig ist er aber auch einer, von dem man überzeugt war, dass er in einer besonderen Verbindung zu Gott steht, und er deshalb auch Gott mitsamt seiner heilenden göttlichen Macht in unser Leben hineinbringen kann, also all das, was wir an göttlicher Weisheit, Stärke und Kraft brauchen, um mit unseren Problemen fertig zu werden. Ein Hoherpriester ist wie eine Brücke zwischen Gott und Mensch. Er hat an beiden Welten Anteil und kann deshalb vermitteln. Genau das zeichnet Jesus Christus aus. Er ist ein wirklicher Mensch und kann uns deshalb auch verstehen. Er hat aber auch an der göttlichen Welt Anteil, kam aus Gott und ging zu Gott zurück, und deshalb kann er uns die göttliche Hilfe vermitteln.

Jesus, Mensch und Gott in einer Person! Ich weiß, dass ist für viele schwer zu fassen und zu begreifen. Aber vielleicht kann uns gerade unser heutiger Predigttext an dieses Geheimnis heranführen, indem er es uns an einem konkreten Punkt vor Augen führt. Am Beispiel der Versuchung nimmt er die menschliche und die göttliche Seite Jesu in den Blick.

Der Autor des Hebräerbriefes sagt: Jesus, unser Hoherpriester, war Mensch, so sehr Mensch, dass er sogar versucht wurde, so wie wir. Das ist eine gewaltige Aussage. Haben Sie mal überlegt, was das heißt, wenn man es wirklich ernst nimmt? Ich kann nicht anders, als es so zu verstehen, dass auch Jesus die Sünde gereizt hat. Denn hätte sie ihn nicht gereizt, dann wäre es ja keine Versuchung gewesen, dann wäre die ganze Versuchungsgeschichte, die wir als Evangelium gehört haben, nichts anderes als ein unwürdiges Schauspiel, schon fast ein Schmierentheater. Aber wie soll man sich die Versuchungen Jesu vorstellen? Nun ja, es könnte tatsächlich sein, dass Jesus manchmal so vom Zorn erfasst wurde, dass er für einen Moment in der Gefahr stand, sich davon mitreißen zu lassen und die Liebe zu uns Menschen aufzugeben. Er hat ja auch so viel Böses und so viel Gemeinheit von Seiten der Menschen erlebt, dass das alles andere als weit hergeholt ist. Genauso gut könnte es sein, dass die Erfolglosigkeit seines Wirkens, ihm hin und wieder so zusetzte, dass er in der Versuchung stand endgültig aufzugeben. (…) Aus all diesen Gründen könnte es auch sein, dass Jesus manchmal von einem ganz normalen Leben geträumt hat, von einem angesehenen Leben an der Seite einer Frau, mit Kindern, ohne die schwierigen Aufgaben, denen er dauernd ausgesetzt war und die ihn schließlich auf den Weg nach Golgatha brachten. Ich weiß, dass solche Gedanken für manche vielleicht eine Provokation sind. Dennoch: Bin ich deshalb ein Ketzer? Muss man nicht in diese Richtung denken, wenn man die Worte unseres Predigttextes ernst nimmt?

Freilich, es steht hier auch das andere: Versucht wie wir, doch ohne Sünde! So sehr die Versuchung Jesus also auch gereizt haben mag, Jesus hat ihr widerstanden. Es gab „etwas“ in Jesu, das stärker war als alle Versuchung. Dieses „etwas“ war Gott selbst. Der liebende Gott war so im Zentrum seines Menschseins war, dass dieser Gott ihm immer wieder Kraft und Stärke geschenkt hat und Jesus in der Hingabe und im Vertrauen auf Gottes Liebe schließlich alle Sünde überwand. Aber noch einmal: Das war auch für Jesus ein innerer Kampf, ein Weg, eine Anstrengung. Keine Kleinigkeit!

Wenn das stimmt, dann ist Jesus der, der mich wie kein zweiter kennt, weil er alle Versuchungen, die mir das Leben oft so schwer machen, von innen her kennt. Ich brauche ihm nichts vormachen. Ich kann und darf vor ihm radikal ehrlich sein. Ich habe einen Gott, der Menschsein bis in seine letzten Tiefen und Untiefen durchgemacht hat.

Anthony de Mello, ein bekannter geistlicher Schriftsteller, berichtet einmal von einer Erfahrung, die gut hierher passt. Er sagt, dass er lange Probleme hatte, Jesus in die Augen zu sehen: „Ich redete zwar, blickte aber weg, wenn ich spürte, dass Jesus mich ansah. Immer sah ich weg, und ich wusste warum. Ich hatte Angst einen Vorwurf dort zu finden wegen irgendeiner noch nicht bereuten Sünde. Ich dachte, ich würde auf eine Forderung stoßen: irgendetwas wollte er wohl von mir. Eines Tages fasste ich Mut und blickte ihn an! Da war kein Vorwurf. Da war keine Forderung. Die Augen sagten nur: Ich liebe dich. Ich blickte lange in diese Augen, forschend blickte ich in sie hinein, doch die einzige Botschaft lautete: Ich liebe dich. Und ich ging hinaus, und wie Petrus weinte ich.“ Ist das nicht wunderbar? Dass ich vor jemand stehen darf, der mich nicht verurteilt, der alles verstehen kann, weil er alles durchlebt und durchlitten hat. Und vielleicht ist gerade dieser nicht verurteilende Blick Jesu die Voraussetzung dafür, dass ich den Mut bekomme, auch das Schwierige und Dunkle in meinem Leben anzuschauen und mich ihm zu stellen. Warum fällte es uns denn oft so schwer, Fehler oder Unzulänglichkeiten oder Sünden zuzugeben. Vielleicht nur aus einem einzigen Grund: Weil wir Angst haben, dass mit unseren Taten auch wir als Personen verurteilt werden. Wer mir dagegen das Gefühl vermittelt, dass er auf meiner Seite steht und mich auf keinen Fall loslassen wird, vor dem kann ich endlich auspacken und ehrlich sein.
Dort, wo das passiert, wo ich meine Schwierigkeiten und Versuchungen nicht mehr verschweigen muss und sie vor und mit Jesus anschauen kann, geschieht oft etwas ganz Erstaunliches: Es kommen mir plötzlich wie aus heiterem Himmel Gedanken und Ideen, wie ich besser damit umgehen kann. So lange ich Dinge verdränge und mich dagegen wehre, gebe ich ihnen eine gewaltige Macht. Sie scheinen riesengroß und unüberwindbar. Sie nehmen mir den Atem. Wenn ich sie aber angstfrei ankucken kann, dann wird mein Blick wieder realistischer, objektiver und plötzlich sehe ich Möglichkeiten der Überwindung. Scheinriese! (Michael Ende) Aber die Dinge werden durch Annahme nicht nur auf ihr Normalmaß zurechtgeschrumpft, je länger ich manches anschaue, desto mehr merke ich auch, dass in allem eine mir von Gott zugedachte positive Lernaufgabe steckt. Viel Traurigkeit und Frust kommt z.B. davon her, dass ich mein Glück von irgendetwas abhängig gemacht habe. Vielleicht soll ich deshalb lernen, mein Glück in Gott zu suchen, loszulassen, frei zu werden. Viel Unglück kommt daher, dass ich meine alles ändern zu können. … Kurz: Das Schwierige und Dunkle anzuschauen, zusammen mit dem liebenden Gott, kann mich auf einer tieferen Ebene heilen, und plötzlich fließen mir durch Jesus dann vielleicht auch die göttlichen Impulse zu, die vielleicht noch nicht das ganze Problem lösen, die mir aber zumindest den nächsten wichtigen Schritt zeigen. So ist uns mit Jesus als unserem göttlichen Hohenpriester beides geschenkt: Verstehen, Liebe und Annahme, aber auch das göttliche Licht und die göttliche Energie, die uns helfen kann, unsere Probleme und Schwierigkeiten mutig und zuversichtlich anzugehen. Deshalb heißt es in unserem Text: Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

Eine letzte kleine Anmerkung: Jesus ist der beste Seelsorger, den man sich vorstellen kann. Das stimmt. Aber es stimmt auch, dass dieser Jesus uns auch durch Menschen begegnen kann. Deshalb: Spielen Sie das eine nicht gegen das andere aus. Manchmal ist es auch dran, dass wir bei Menschen Hilfe suchen, die in einer vertrauten Beziehung zu Jesus leben. Menschen, die in und mit Jesus gelernt haben, andere zu verstehen und die uns deshalb auch Impulse zum rechten Leben geben können. Das können Pfarrer und Pfarrerinnen sein. Das können aber auch genauso gut andere erfahrene Christen und Christinnen sein.

Amen

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