Predigt zu Jesaja 50,4-9

Jesaja 50,4-9

Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.
Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!
Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.

Liebe Gemeinde!

Welche Menschen bewundern Sie? Ich vermute mal, dass Sie nicht zu denen gehören, die sich mit billigen Klischees zufriedengeben.

Sie bewundern jemanden nicht nur deshalb, weil er von Heidi Klum dazu gekürt wurde Germanys Next Top Model zu sein, weil er ein berühmter Star ist oder einfach nur ein riesiges Vermögen hat und deshalb in jeder Ausgabe von Gala erwähnt wird.

Sie haben höhere Qualitätsstandards. Vielleicht zählt für Sie, wie einfühlsam und menschlich zugewandt jemand ist: Gibt mir ein Mensch das Gefühl, das er wirklich mich meint oder bin ich für ihn nur Mittel zum Zweck? Vielleicht zählt für sie auch das, was man normalerweise als Zivilcourage oder Rückgrat bezeichnet: Kluge Reden schwingen ja viele, aber auch mal Tacheles reden, und das auch dann, wenn es persönliche Nachteile bringt, das ist nicht jedermanns Sache. Ganz gewiss hat für Sie Bedeutung, ob jemand einen lebendigen und überzeugenden Glauben hat. Denn wäre ihnen der Glaube nicht so wichtig, dann säßen Sie wahrscheinlich nicht hier im Gottesdienst.

Wenn meine Vermutungen nicht ganz falsch sind, wenn viele von Ihnen so hohe Standards von gelingendem Menschsein haben, dann werden sie sich wohl auch selbst von ganzem Herzen wünschen, ein solcher Mensch zu werden. Sie werden sich überlegen, was Sie dazu beitragen können. Sie werden sich immer wieder fragen: Was ist das Geheimnis eines letztlich guten und gelingenden, eines in Gott und Glaube gegründeten Menschseins?

Wenn diese Frage in Ihnen lebendig ist, dann sind Sie bei unserem heutigen Predigttext ganz richtig. Denn hier wird tatsächlich ein Idealbild gezeichnet: das Bild eines Menschen, der das verkörpert, was nach der Bibel gutes und gelingendes Menschsein ausmacht. Der Prophet hat an mehreren Stellen seines Buches ein solches Idealbild gezeichnet, und er hat ihm auch einen Namen gegeben: Gottesknecht! So führt er uns auf sehr lebendige Weise vor Augen, wie das konkret aussieht, wenn ein Mensch ganz und gar an Gott hingegeben ist.

Wenn ich den Menschen unseres Predigttextes nun mit einem Bild oder einem Symbol darstellen wollte, dann würde ich vielleicht das Symbol einer nach oben hin geöffneten Schale nehmen. Dieser Mensch ist ein für Gott offener Mensch: ein Empfangender, ein Hörender, einer, der zuerst nimmt und dann weitergibt. Deshalb ist hier auch so pointiert vom Hören die Rede: „Alle Morgen weckt Gott mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet.“ Vielleicht sind deshalb die Worte, die er spricht, auch so ermutigend, passend und hilfreich. Sie kommen nicht aus ihm selbst, sondern aus einer tiefen Intimität mit Gott. Dieser Mensch liebt Menschen mit der göttlichen Liebe, kann sich in sie einfühlen, kann erahnen, was Sie jetzt vielleicht brauchen und was nicht. Deshalb weiß er, wann er reden und wann er schweigen soll, und wenn er redet, dann haben seine Worte Tiefgang, ermutigen und helfen, den nächsten Schritt zu gehen. Gott lässt gleichsam sein Leben durch diesen Menschen hindurchfließen, wobei er keine Marionette ist, sondern einer der mitdenkt, handelt und sich engagiert, aber eben in einer Wirkeinheit mit Gott.

Mich machen diese Worte sehr nachdenklich. Mich machen sie deshalb so nachdenklich, weil ich um mich herum und auch in mir oft sehr viel blinden Aktionismus erlebe. Auch in der Kirche.

Was meinen wir nicht, dass wir alles tun müssen, um die Menschen zu erreichen, um unsere Gottes- und Gemeindehäuser vollzukriegen: ein neuer Gottesdienst, ein Aufsehen erregendes Event, eine Evangelisation, Migrations- und Sozialarbeit und was auch immer. Es ist auch immer jemand da, der eine gute Idee hat. Bei uns wurden gerade die Kirchenvorstände neu gewählt und natürlich gibt es dann oft Klausurtage oder Wochenenden, wo man überlegt, was man in den nächsten Jahren angehen und erreichen will. Sie können sich vorstellen, was das alles so aufkommt.

Nun bitte missverstehen Sie mich nicht. Ich habe nichts gegen gute Ideen und tolle Aktionen, die Menschen in Kontakt mit Gott bringen, die ihren leiblichen und seelischen Bedürfnissen entgegenkommen, und doch frage ich mich oft, ob das gut Gemeinte – kein Zweifel – immer auch das wirklich Gute ist. Denn wenn am Ende alle völlig außer Atem und gestresst sind, dann fragt man sich doch: Hat Gott das wirklich alles von uns gewollt? War wirklich alles notwendig und sinnvoll? Oder war viel einfach nur blinder Aktionismus, mit dem wir zum Teil vielleicht auch nur uns selbst künstlich aufplustern und wichtig machen wollten? Und das gilt natürlich nicht nur für das Gemeindeleben, sondern auch für mein persönliches Leben.

Vielleicht müssten wir wirklich wieder ganz neu die Tugend des Wartens, Hörens und Stille-Seins einüben, immer wieder Hinschauen, bis sich langsam oder manchmal vielleicht auch plötzlich herauskristallisiert, was jetzt dran ist. Die Quäker sind in dieser Hinsicht sehr interessant. Ihre Gottesdienste bestehen zu großen Teile aus langen Phasen des Schweigens, bis dann aus dieser Atmosphäre des Hörens auf Gott langsam erste Impulse kommen.

Richtige Stille ist dabei auch deshalb so wichtig, weil sie uns helfen kann, in uns die Spreu vom Weizen zu unterscheiden. Was passiert denn normalerweise in der Stille? Klar, es kommen Gedanken. Was machen wir dann oft? Wir identifizieren uns damit. Wir spinnen die Gedanken weiter, und was ist dann? Es ist überhaupt nicht mehr still. Was wäre nun, wenn Sie die Gedanken kommen und gehen lassen würden, bis es wirklich still ist. Nur noch Sie und Gott? Vielleicht bekämen sie dann irgendwann das Ohr des Jüngers oder der Jüngerin geschenkt.

Noch ein kleiner Gedanke zu unserem dauernden Aktionismus: Ich denke mir manchmal, wir sind auch deshalb so aktionistisch, weil wir immer denken, wir müssten Gott in diese Welt hineinbringen, Aber ist das denn so? Ist Gott nicht schon in der Welt? Wirkt er nicht schon? Ist das Reich Gottes nicht schon unter uns, wie Jesus sagt? Vielleicht müssen wir nur einfach auf das aufmerksam werden, was Gott tut und uns von dem verabschieden, was wir denken, dass getan werden müsste. Vielleicht will Gott ja gar nicht, dass wir eine neue Gottesdienstform ausprobieren, sondern uns wo ganz anders hinbringen. Vielleicht an den Stammtisch in der Kneipe, weil dort ein paar Menschen mit Neugier und Aufgeschlossenheit für die „Dimension mehr im Leben“ sitzen. Oder in den Kindergarten, wo die Eltern dieser Kinder sich immer wieder treffen und froh wären, wenn Sie jemand hätten, mit dem sie auch mal über existentielle Fragen reden könnten. Oder, oder, oder … Das alles kann ich gut in der Stille einüben, wenn ich dort lerne mich zurückzunehmen und auf Gottes Wirklichkeit zu schauen …

Das Gute erkannt zu haben, bedeutet freilich nicht, dass nun alles ein gutes Ende nimmt. Denn der Wahn, dass wir die Dinge, die wir erkannt haben, nun selbst mit aller Gewalt durchsetzen müssen, wird sich immer wieder melden. Wir müssen uns auch mitten im Tun immer wieder zurücknehmen, Gott Raum geben, damit er seinen Namen verherrlichen kann. Wie immer Sie es auch wenden: Nicht das Tun ist die große Kunst, sondern das Lassen, das Loslassen, das Sich-Überlassen, das sich Gott überlassen.
Der Mensch, der in unseren Versen beschrieben wird, ist einer, der einen klaren und eindeutigen Weg geht. Er macht sein Gesicht hart wie einen Kieselstein. Kein Wischi-Waschi-Typ. Das ist sicher auch eine Frucht seines Hörens, seines intimen Umgangs mit Gott. Er hat sich und sein Leben immer wieder im Lichte der göttlichen Liebe betrachtet, und so hat er langsam gelernt, was sein Job, was seine Berufung ist.

All diese Klarheit, all diese Durchlässigkeit für Gott, all diese Menschenliebe hat sein Leben nicht unbedingt leichter gemacht. Ganz im Gegenteil. Gerade weil er klar und eindeutig war, hat er sich bei vielen unbeliebt gemacht. Gerade, weil er so offen für Gott war, hat er all denen ein schlechtes Gewissen gemacht, die irgendwie wissen, dass dies eigentlich der rechte Weg ist, es aber nicht zugeben wollen. Viele fühlen sich von ihm durchschaut und bloßgestellt, auch wenn er selbst niemand schikanieren wollte. Das Ergebnis ist jedenfalls keine weltliche oder kirchliche Karriere. Das Ergebnis ist eher die Karriere nach unten. Wie Ignatius von Loyola es einmal formuliert hat. Viele gläubige Menschen haben genau das erlebt. Denken Sie an die Propheten. Denken Sie an die Jünger Jesu. Denken Sie an ganz viele andere. Wer Gott Raum gibt in dieser Welt, der kommt schnell unter die Räder, und er muss dann oft unter Schmerzen lernen, dass Gott aus allem Schwierigen doch Wunderbares hervorbringen kann.

Vor zweitausend Jahren zog ein Mann auf einem Esel reitend in Jerusalem ein. Er wusste, dass es das letzte Mal sein wird. Die Zahl seiner Gegner war einfach zu groß geworden. Er würde vermutlich nicht mit dem Leben davon kommen. War damit alles aus und vorbei? Der Traum vom Reich Gottes ausgeträumt? Hat er sich gar über sich selbst getäuscht? Wir wissen nicht, was dem Mann aus Nazareth damals alles durch den Kopf ging. Aber dass er mit seinem Schicksal kämpfte und haderte, das geht spätestens aus der Gethsemaneerzählung deutlich genug hervor. Was hat Jesus in diesen Zweifeln und Anfechtungen getröstet? Wir können das natürlich nicht wissen, und dennoch: Könnte es nicht sein, dass ihm auf einmal dieser alte Texte durch den Kopf ging? Dass er aus der Perspektive dieses Textes sein Leben neu und tiefer betrachten konnte, dass er begriff: Es mag in den kommenden Tagen so tief hinabgehen wie es nur geht, bis ins schlimmste Leiden, bis in den Tod. Das war schon immer das Schicksal derer, die für Gott brannten. Aber Gott ist treu: Er wird mich nicht fallenlassen. Er wird sich zu mir bekennen. Er wird mich wieder aufrichten, mich aufstehen lassen, um dann alles auf seine Weise zu erfüllen, was er verheißen hat. Eines steht jedenfalls fest: Die ersten Christen fanden keine bessere Beschreibung des Geheimnisses Jesu, seiner Menschlichkeit und seiner Göttlichkeit, als diese alten und geheimnisvollen Lieder vom Gottesknecht. In Jesus war das Geheimnis des Gottesknechts vollkommen verkörpert.

Jesus ist durch seinen Geist in jedem von uns gegenwärtig. Er will uns zu Menschen machen, die wie er nicht aus sich selbst schöpfen, sondern aus Gott, zu Menschen, die merken, wie wunderbar es ist, wenn man das göttliche Leben durch sich hindurch fließen lassen kann, wenn man mit all seinen Leib- und Seelenkräften hineingenommen wird in das Werk, das Gott an dieser Welt tun will. Gott garantiert uns nicht, dass wir dadurch in menschlicher Perspektive erfolgreich werden, aber er garantiert uns, dass aus dem Korn unseres Lebens ein prächtiger Baum hervorgehen wird. Er garantiert uns inneren Frieden. Ich weiß, wie schnell das alles fraglich wird, wenn man hart herausgefordert wird, aber vielleicht können wir dann das machen, was Jesus auch gemacht hat: diesen Text meditieren, ihn vielleicht sogar auswendig lernen, damit in uns die Zuversicht wächst: Gott wird uns nicht lassen.

Amen

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31. Januar 2022

Jesu Weg und unser Weg - eine Pilger- und Wanderreise auf Jesu Spuren

Sie fahren gerne im klimatisierten Reisebus durch exotische Länder, um nur ab und zu für genau getaktete Besichtigungen auszusteigen? Sie finden es zu anstrengend, sich auch mal selbst auf den Weg zu machen, um im Gehen die Landschaft wirklich unter die Füße zu bekommen und neue Erfahrungen zu machen? Sie wollen alles sehen, was zu sehen ist, auch wenn Sie dabei kaum noch aufnahmefähig sind? Sie interessieren sich für Religion und Theologie, aber haben kein so großes Interesse daran, über Glaubensfragen mit sich selbst oder anderen Menschen ins Gespräch zu kommen? … Wenn das so ist, dann würde ich Ihnen von meiner Pilgerreise nach Israel/Palästina dringend abraten. Im anderen Fall kucken Sie sich mein Angebot gerne mal an …

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5. April 2021

„Das Café am Rande der Welt“ und die Geschichte von den Emmausjüngern

Gestern habe ich ein kleines Büchlein gelesen: „Das Café am Rande der Welt“, von John Strelecky. Ein Bestseller! Deutsche Erstausgabe: 2007. Ich halte die 54. Auflage aus dem letzten Jahr in der Hand. Beachtlich! Wieder mal ein Bestseller, den ich relativ spät gelesen habe.

Wie auch immer. Ich fand das Buch anregend. Nicht so sehr wegen seines Inhalts. Den habe ich einfach schon zu oft gehört und gelesen in der immer inflationärer werdenden Lebensratgeber-Literatur. Er heißt auf den Punkt gebracht: „Lebe dein Leben, und zwar jetzt – und lass dich nicht für blöd verkaufen von denen, die dir durch ihre oft materiellen Glücksverheißungen das Blaue vom Himmel versprechen.“ In diesem Buch wird übrigens sogar ein Kürzel für den Sinn des Lebens gefunden, und das heißt: „ZDE“ = „Zweck der Existenz“. Diesen ganz individuellen „ZDE“ gilt es zu finden und zu leben. Irgendwie natürlich alles richtig, aber auch ein wenig banal, vor allem: wenn das bloß immer so einfach wäre. Viktor Frankl, der bekannte Psychotherapeut aus Österreich, hat sich dieser Aufgabe übrigens schon vor längerer Zeit auf etwas höherem Niveau gestellt. Er nannte das Logotherapie. Eine Therapie, die den Menschen individuell helfen soll, ihren spezifischen Lebenssinn zu finden, also das, wofür sie da sind. Was wiederum eine der drei Fragen ist, mit denen der Besucher dieses eigenartigen Cafés auf der Speisekarte konkfrontiert wird: „Wozu bin ich da?“ Aber lassen wir das! Wie gesagt, was mir gefallen hat, ist weniger der Inhalt. Es ist vor allem die Rahmengeschichte, und die ist folgendermaßen konstruiert:

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13. März 2021

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„Corona ist nicht die Mutter aller Krisen, noch weniger stellt sie die größte Gefahr für die Menschheit dar (das ist und bleibt das ölologische Desaster, das sich mit wachsendem Tempo vollzieht), Corona ist aber vielleicht die aufklärerischste Krise, weil sie die Welt so verlangsamt hat, dass man ihre Bewegungsgesetze besser verstehen kann.“

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