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Wenn man nach dem Menschenbild fragt, dann fragt man meist nach einem abstrakten Wesen des Menschen, das dieser dann zu realisieren hat, wenn er zu wahrem Menschsein finden will. Das biblische Menschenbild (AT und NT) zeichnet sich nun aber dadurch aus, dass der Mensch nicht eindeutig definiert wird, da Menschsein individuell höchst unterschiedlich ist und das Bilderverbot nicht nur für Gott, sondern auch für Menschen gilt. Die folgenden Sätze von Max Frisch sind in ihrer Opposition gegen das Sich-ein-Bild-machen eine durchaus adäquate Zusammenfassung der biblischen Überzeugung: „Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in all seinen möglichen Entfaltungen. … Die Liebe befreit aus jeglichem Bildnis. Das ist das erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben.“ (Max Frisch, Tagebuch. 1946-1949, Frankfurt 1973, S. 37) Das letzte Geheimnis eines Menschen ist in Gott verborgen (Kol 3,3). Bilder zwängen ein, setzen unter Druck und helfen gerade nicht, dass das zur Entfaltung kommt, was wir sind und werden sollen. Die Liebe befreit von jedem Bild.
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Auch wenn es ein derart fixiertes biblisches Menschenbild nicht gibt und geben soll und deshalb die biblischen Menschenbilder durchaus unterschiedlich akzentuiert sind, so spricht die Bibel dennoch von bestimmten Relationen, die nötig sind, wenn sich unser Menschsein in einer guten und sinnvollen Weise entfalten soll. Diese Beziehungen, in die unser Menschsein eingefügt sind, ja die unser Menschsein geradezu konstituieren, sind die Gottesbeziehung, die Beziehung zum Mitmenschen und zur Schöpfung, ebenso wie die „Beziehung“ zu mir selbst. Wenn man also schon vom „Wesen“ des Menschen sprechen will, dann müsste man biblisch gesehen sagen: Der Mensch ist ein Beziehungswesen.
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Dieses Beziehungsgefüge wird in einer auch für christliche Theologie exemplarischen und gültigen Weise in den beiden Schöpfungsberichten (Gen 1-3) des AT beschrieben. Folgende Aspekte sind hier zentral:
3.1 Grundlegend für Menschsein ist die Gottesbeziehung. Dazu schreibt Horst Seebass: „Die im Alten Testament überlieferten Texte wollen Menschen überhaupt nicht anders erkennen als vor dem ‚Angesicht’ ihres Gottes.“ (KuD 22, 1976 43) Dort, wo der Gottesbezug ausgeblendet wird, kommt der Mensch in Existenz- und Glaubenskrisen, verfehlt er letztlich sein Menschsein. Im ersten Schöpfungsbericht zeigt sich dieser Gottesbezug darin, dass der Mensch im Bild Gottes geschaffen ist (Gen 1,27). Das hebräische Wort zelem – oft auch gebraucht für Götterstatuen – beschreibt den Menschen als Repräsentanten Gottes auf Erden, und zwar jeden Menschen (Demokratisierung!). So wie der Pharao als Bild Gottes die Gottheit repräsentiert, so repräsentiert jeder Mensch Gott. Der Mensch soll mit der Schöpfung also im Sinne Gottes umgehen (Gen 1,28). Voraussetzung für verantwortliches Handeln ist demnach die Rückbindung an Gott. Der zweite Schöpfungsbericht (Gen 2,4bff) spricht nur dann von einer gelingenden Gottesbeziehung, wenn diese von Vertrauen geprägt ist. Das Misstrauen gegenüber Gott war letztlich dafür verantwortlich, dass der Mensch von der Frucht des verbotenen Baumes aß (Gen 3,1-5). Der Mensch, der sich das gute Leben selbst schaffen und in diesem Sinn sein will „wie Gott“, lebt nicht mehr aus der für alle Geschöpfe heilvollen Einsicht, dass unser Leben letztlich immer von Gott empfangenes Leben ist.
3.2 Die menschliche Selbstbeziehung kommt indirekt vor allem im zweiten Schöpfungsbericht zur Sprache, indem dort von der Scham gesprochen wird (Gen 3,7ff). Der Mensch, der sich schämt, der also nicht mehr zu sich stehen kann, der Mensch im Widerspruch, das ist der Mensch, der sich nicht mehr angenommen weiß, weil er aus der Gottesbeziehung gefallen ist. Die Bedingung der Möglichkeit der Selbstannahme auf einer tieferen Ebene ist demgemäß das Wissen des Angenommen- und Geliebtseins durch Gott.
3.3 Die Beziehung zum Mitmenschen kommt in der Urgeschichte der Bibel in vielfältiger Weise zur Sprache. Insgesamt gilt: Die Zerstörung der Gottesbeziehung führt zur Zerstörung der mitmenschlichen Beziehung, und das aus unterschiedlichen Gründen. Der Mensch, der nicht mehr aus der Liebe Gottes lebt, kann auch andere Menschen nicht mehr im Lichte dieser Liebe sehen. Er kann auch Schuld nicht mehr zugeben, sondern muss sie auf andere projizieren (Gen 3,12ff: Sündenbockmentalität). Außerdem: Die Notwendigkeit, sich selbst ein gutes Leben schaffen zu müssen, führt dazu, dass der oder die andere notwendig als Konkurrent(in) in den Blick kommt (Kain und Abel). Fehlende Ichstärke führt darüber hinaus zu gefährlicher Machtanhäufung (Gen 11: Turmbau zu Babel).
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Das christliche Menschenbild ist in diese relational biblisch-jüdische Grundstruktur eingefügt, unterscheidet sich aber von der jüdischen Überlieferung dadurch, dass sie davon ausgeht, dass wahres Menschein in Jesus Christus, dem ursprünglichen Bild Gottes realisiert ist, und wir an diesem Menschsein Anteil bekommen, wo wir in der Beziehung zu Jesus Christus unser Menschsein umgestalten lassen. Mit anderen Worten: Jesus ist der Mensch, der durch die göttliche Gegenwart in ihm als einziger in einem vollkommenen Beziehungsgefüge lebte. Er weiß sich vollkommen von Gott geliebt und angenommen und kann deshalb auch sich selbst und andere vollkommen lieben. Als von Gott Auferweckter ist er durch seinen Geist bleibend unter uns gegenwärtig und verwandelt uns in sein Bild hinein, in das Bild wahren Menschseins.
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Die biblische Geschichte betrachtet den Menschen als einen Menschen, der nicht so ist, wie er sein soll, der aber dennoch von Gott geliebt ist, und dessen Menschsein dort wieder in die richtigen Bahnen kommt, wo sich der Mensch die Zusage der göttlichen Liebe neu gefallen lässt. Diese Einsicht hat dazu geführt, dass die Rechtfertigungslehre im Protestantismus zur entscheidenden Basis wurde. Die Rechtfertigungslehre besagt in aller Kürze: Ich bin recht, weil Gott mich gnädig annimmt und bejaht. Ich kann meine Würde selbst nicht herstellen, sondern empfange sie als Geschenk: solus Christus, sola gratia, sola fide. Diese Erfahrung erst befreit zu wahrer Autonomie. Denn jetzt ist mein Selbstwert nicht mehr daran geknüpft, dass ich bestimmte Erwartungen (eigene oder fremde) erfülle. Jetzt kann ich in Freiheit handeln und das heißt letztlich: aus der Fülle und der Liebe heraus handeln.
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Das christlich-biblische Menschenbild betrachtet den Menschen immer als ganzen Menschen. Im AT zum Beispiel beschreiben bestimmte anthropologische Termini immer das ganze Menschsein, wenn auch unter jeweils einem Aspekt: „Herz“, „Nieren“, „Atem“ etc. Es gibt deshalb auch keine Abwertung eines Aspekts zugunsten eines anderen. Man könnte deshalb alttestamentlich nie sagen: Der Mensch hat einen Leib. Nein, der Mensch ist Leib, nicht nur zufällig, sondern wesentlich. Das gilt im Prinzip auch für das NT. Die griechische Aufspaltung des Menschen in einen göttlichen und wertvollen Seelenteil, der dem niedrigen und weniger wichtigen Körper entgegensteht, ist biblischem Denken von seinem Ursprung her fremd. Als Korrektur zu einer dichotomen oder trichotomen und damit oft leib-, sexual- und schöpfungsfeindlichen Anthropologie im frühen und späteren Christentum ist diese ganzheitliche Sicht des Menschen neu herauszustellen. Deshalb kann auch die eschatologische Vollendung immer nur leiblich vorgestellt werden (Paulus).
Dr. Peter Hirschberg