Leben im Horizont des Shabbat – von der Notwendigkeit spiritueller Einübung

Leben im Horizont des Shabbat –
von der Notwendigkeit spiritueller Einübung
(aus Peter Hirschberg, Mut zur Unterbrechung. Schabbat und Sonntag als Hilfe zur Entschleunigung, Nürnberg 2012, 51-61.)

Der Shabbat erinnert uns an das, worauf es im Leben eigentlich ankommt: an unsere Beziehung zu Gott, den Mitmenschen, die Schöpfung und – nicht zuletzt – an unsere „Beziehung zu uns selbst“. Durch den Shabbat fragt uns Gott, ob wir diesen essentiell notwendigen Lebensdimensionen den nötigen Raum geben oder es bereitwillig in Kauf nehmen, wenn das Beziehungsgeflecht unseres Lebens immer mehr seine innere Spannkraft verliert.
Worauf also kommt es uns letztlich an? Auf unsere Leistungen und Produkte, auf ein reibungsloses Funktionieren oder auf ein Leben, das diesen Namen auch wirklich verdient?

Ich kenne viele Menschen, die es sich zum obersten Ziel gemacht haben, etwas in diesem Leben zu „bewirken“. Das klingt gut und verantwortungsvoll. Aber wie bewirken wir etwas? Indem wir nur noch durch die Gegend hetzen, um etwas „zu bewirken“ oder dadurch, dass wir eine neue Lebensqualität in diese Welt hineinbringen? Jesus hat sein ganzes Leben lang keinen einzigen Satz publiziert. Er hat keinen religiösen Aktionismus propagiert, bei dem es nur noch um die Erreichung bestimmter „strategischer Ziele“ geht und der einzelne außen vor bleibt. Er hat keine Massenbewegung ins Leben gerufen, obwohl ihm das aufgrund seines charismatischen Talents keine großen Probleme bereitet hätte. Ganz im Gegenteil: Er ist als ein von den Menschen verachteter und zum Tode verurteilter Verbrecher aus dem Leben geschieden. Jesus hat einfach nur sein Leben gelebt, ist seiner (göttlichen) Bestimmung gefolgt, und hat gerade so etwas bewirkt. Es geht nicht um Quantität. Es geht um Qualität. Es geht nicht um ein „immer mehr“, gleichgültig ob sich dies auf materielle oder geistig-ideelle Errungenschaften bezieht, es geht um ein neues Sein, um einen neuen Lebensstil. Der Shabbat ist die göttliche Einladung, die Dimension des Seins über die Dimension des Habens zu stellen. Gerade so werden wir unseren Teil dazu beizutragen, dass in der Welt etwas in Richtung Reich Gottes vor sich geht.
Doch worin zeigt sich diese neue göttliche Lebensqualität nun konkret? Was ist ihr hervorstechendstes Merkmal? Ich will es einmal so sagen: Sie zeigt sich darin, dass wir wieder beginnen, das Leben in all seiner Fülle und seinem Beziehungsreichtum zu genießen. Das Glück unseres Lebens hängt davon ab, ob wir es schaffen, das dankbar wahrzunehmen, was „um uns herum ist“. Auf dieses „um uns herum“ kommt es an. Nicht nur, weil es schön und unserer Bewunderung wert ist – was es zweifelsohne ist –, sondern weil es das Kleid ist, das sich der lebendige Gott angezogen hat, um uns zu begegnen. Wir leben nicht in einer „gottlosen Welt“. Wir leben in einer Welt, die „gesättigt“ ist mit Gott. Das Problem besteht einzig und allein darin, dass uns oft das Herz und die Sinne fehlen, um diese „Göttlichkeit“ wahrzunehmen.

Da ist die Schönheit der Natur, die uns umgibt. Auch wenn wir nicht dauernd einen grandiosen Sonnenuntergang erleben, schon ein blühender Strauch am Wegesrand oder eine frische Brise morgendlicher Luft kann uns zu einem Hinweis auf die Herrlichkeit und Güte Gottes werden.

Da sind die Menschen, die uns täglich begegnen. Gott hat sie nicht geschaffen, damit wir sie instrumentalisieren und vor den Karren unserer oft so eigensüchtigen Interessen spannen. Er hat sie uns als Menschen mit eigenem Recht und eigener Würde an die Seite gestellt. Ein Hinweis auf den von Gott gewollten Umgang miteinander steckt in dem Wort „Person“. Es kommt von dem lateinischen Wort „personare“, das so viel heißt wie „durchtönen“. Ganz in diesem Sinn, meine ich, sollen wir Menschen betrachten, als solche, durch die uns etwas entgegentönt: ihr individueller Reichtum, ihre Originalität, ihre Erfahrungen, ihre Stärken und Schwächen. Wir sollen uns bereichern lassen und ihnen gleichzeitig Anteil geben an unserem Reichtum. Wir sollen ihre Wunden verstehen lernen und unsere eigenen nicht verbergen. Mit anderen Worten: Wir sollen lieben. Wo wir das tun, da werden wir vielleicht auch erleben, dass uns durch den anderen Gott entgegentönt, dass uns – etwas hochtrabend gesprochen – spontane Begegnungen im Alltag zu göttlichen Offenbarungen werden. Kennen wir das nicht? Dass wir in einer Begegnung plötzlich eine Dichte spüren, eine Nähe und Wärme, eine Intensität, die etwas durchaus Göttliches an sich hat? Haben wir es gelegentlich nicht sogar erlebt, dass uns ein Gespräch zu einem wegweisenden und weiterführenden Aha-Erlebnis wurde, dass es also geradezu prophetische Qualität bekam und wir plötzlich wussten, was zu tun und zu lassen ist? Abraham, so erzählt es das Alte Testament (Gen 18,1-15), hat drei fremde Männer freundlich bei sich aufgenommen. Doch in diesen Fremden kam Gott selbst zu ihm und hat ihm die Geburt eines Sohnes angekündigt. Alltägliche Erfahrungen als Gotteserfahrungen! Gewiss, das sind Höhepunkte, die nicht jeden Tag vorkommen. Aber selbst dort, wo wir uns „nur“ bemühen, der Kassiererin im Supermarkt als Mensch zu begegnen, indem wir sie bewusst und freundlich ansehen – und sie vielleicht zurücklächelt – bekommt unser Alltag „göttliche“ Qualität.

Selbst die großen und auf den ersten Blick unangenehmen Herausforderungen können auf ein anderes Niveau gehoben werden, wenn wir sie nicht als üble und dunkle Schicksalsschläge hinnehmen, sondern sie im Vertrauen aus Gottes Hand nehmen, im Vertrauen darauf, dass Gott sich etwas dabei gedacht hat. Da ist ein Gespräch, vor dem uns graut. Aber wir wollen uns nicht von der Angst ins Boxhorn jagen lassen, sondern entscheiden uns, es als etwas zu betrachten, das irgendwie mit Gott zu tun hat. Wir bitte ihn um seinen Segen, – und sind überrascht, wie sich die Dinge überraschend zum Guten wenden. Klar, oft braucht es gerade bei schweren Krisen lange, bis wir es schaffen, das Dunkle anzunehmen, es aus einer göttlichen Perspektive zu betrachten. Manchmal gelingt es uns vielleicht auch überhaupt nicht. Aber selbst dort leben wir immer noch aus der Überzeugung, dass es in jedem Dunkel einen Lichtfunken gibt. Dass wir ihn nicht sehen, das macht uns traurig. Aber würden wir nicht irgendwie an den verborgenen und nur Gott bekannten Sinn glauben, dann könnten wir wahrscheinlich überhaupt nicht mehr leben.
Nein, diese Welt ist nicht gottlos. Gott hat sie sich zum Medium erwählt, um uns zu begegnen. Sie ist nicht Gott. Sie ist genau genommen auch nicht göttlich. Aber sie ist transparent, durchsichtig für Gott. Sie ist tatsächlich das Kleid, das der Ewige sich angezogen hat, um uns zu begegnen. Deshalb brauchen wir Augen zu sehen und Ohren zu hören. Wir brauchen eine achtsame Wahrnehmung. Wir brauchen Präsenz. Genau dazu soll uns der Shabbat helfen. Er ist der uns von Gott geschenkte Tag, um diese so dringend nötige Haltung der Achtsamkeit zu erfahren und einzuüben.

Wenn ich stehe, dann stehe ich …

Ein in der Meditation erfahrener Mann wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so gesammelt sein könne.
Dieser sagte:
Wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
wenn ich sitze, dann sitze ich,
wenn ich esse, dann esse ich,
wenn ich spreche, dann spreche ich …
Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten: Das tun wir auch, aber was machst du noch darüber hinaus?
Er sagte wiederum:
Wenn ich stehe, dann stehe ich,
wenn ich gehe, dann gehe ich,
wenn ich sitze, dann sitze ich,
wenn ich esse, dann esse ich,
wenn ich spreche, dann spreche ich …
Wieder sagten die Leute: Das tun wir doch auch.
Er aber sagte zu ihnen:
Nein, wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon,
wenn ihr steht, dann lauft ihr schon,
wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel …

Spirituelle Übung als Weg zu einem „shabbatlichen“Lebensstil …

Vielleicht werden Menschen, die aus dem Glauben heraus leben, mir beipflichten, wenn ich die Bedeutung der Achtsamkeit für unser spirituelles Leben in den Mittelpunkt rücke. Die Frage ist nur, ob diese Zustimmung etwas austrägt, ob sie uns nachhaltig verändert. Bezogen auf mein eigenes Leben weiß ich jedenfalls, dass das Entscheidende nicht die Erkenntnis ist, die ich im Kopf habe. Die entscheidende Frage ist immer, ob es mir gelingt, eine neue innere Haltung zu entwickeln. Eine solche finde ich meist aber nur durch „leibliche“ Übung. Damit sind keine gymnastischen Übungen gemeint, jedenfalls nicht zwingend, sondern Übungen, die in der leiblichen Sphäre meines Lebens ansetzen und in die innersten Bereiche meines Lebens hinein ausstrahlen. Sie gehen im wahrsten Sinn des Wortes „durch mich“ hindurch und sorgen dafür, dass eine Haltung „verinnerlicht“ und damit zu einer neuen Lebenshaltung wird. Fulbert Steffensky, einer der wichtigsten spirituellen Autoren unserer Gegenwart, betont in diesem Zusammenhang immer wider, dass wir unser Leben nicht nur „von innen nach außen“, sondern auch „von außen nach innen“ leben.

„Von innen nach außen“, das wäre die im traditionellen Protestantismus dominante Richtung. Eine Ansicht, die davon ausgeht, dass die wichtigen Entscheidungen im Inneren des Menschen fallen, in seinem Herzen oder Kopf, und sie sich erst in der Folge in seiner äußeren Lebensgestaltung auswirken. Ich habe eine bestimmte Einsicht, z.B. dass ich zu dick bin, und dann ziehe ich die Konsequenzen daraus, indem ich eine mehr oder weniger wirkungsvolle Diät mache und zügellos Sport treibe. Manchmal geht man bei diesem Modell – vor allem im theologischen Bereich – auch von einem gewissen Automatismus aus, nach dem Motto: Wenn im Inneren die Weichen durch den Glauben an Gott richtig gestellt sind, dann wird auch im Äußeren alles richtig laufen. Volkstümlich formuliert: „Wes des Herz voll ist, des geht der Mund über“. Lassen wir einmal offen, ob man immer von einem solchen Automatismus ausgehen darf, fest steht jedenfalls, dass in diesem Modell Verhaltensänderung immer im Personzentrum des Menschen beginnt und sich dann in die leibliche, alltägliche und gesellschaftliche Sphäre hinein auswirkt. Wie ein ins Wasser fallender Stein zahllose Kreise aus sich heraussetzt, so auch der gute Impuls, der in der Mitte unseres Herzens ankommt. Biblisch formuliert: Bekehrung geschieht von innen nach außen. Berufen kann man sich dabei auf Jesus selbst, der das Verhältnis von Person und Werken so bestimmt hat, dass die Person eindeutig die Priorität hat: „Ein (von innen her) guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein (von innen her) fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.“ (Mt 7,19) Aber auch Paulus geht einen ähnlichen Weg, zum Beispiel wenn er in Röm 12,2 sagt: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist, was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist.“ Die inhaltliche Tendenz geht bei all diesen Formulierungen in die gleiche Richtung: Der archimedische Punkt, von dem her die Welt aus den Angeln gehoben werden kann, ist unser Personzentrum. In dieser Linie steht natürlich auch Martin Luther, der auf der Basis der paulinischen Rechtfertigungslehre den (inneren) Glauben den (äußeren) Werken vorordnet.

So einleuchtend dieses Modell auf den ersten Blick erscheint, es stellt nicht die ganze Wahrheit dar. Natürlich steht am Anfang einer wirklichen Verhaltensänderung meist ein innerer Impuls, und dort, wo es um den Glauben geht, ein göttlicher Impuls. Dann aber kommt es auch darauf an, dass wir durch Rituale, Gewohnheiten und konkretes Verhalten eine Form schaffen, die dem inneren Impuls entspricht und dafür sorgt, dass unser Leben dauerhaft und wirkungsvoll umgestaltet wird. Damit sind wir beim Zweiten: Wir leben unser Leben von außen nach innen. Wie wahr dieser Satz ist, kann jeder bestätigen, der schon einmal erlebt hat, wie schnell rein Äußeres unseren inneren Gemütszustand verändern kann. Ich bin schlechter Laune und versuche durch alle möglichen und unmöglichen Formen innerer Arbeit meinen „schlechte Laune-Dämon“ zu vertreiben. Aber was ich auch unternehme, es wird nur noch schlimmer. Schließlich treibe ich, weil mir nichts mehr Besseres einfällt, eine Stunde Sport, und – Wunder über Wunder – ich fühle mich wie ausgewechselt und kann das Leben wieder gelassen und heiter angehen. Natürlich weiß ich, dass durch den Sport bestimmte glücklich machende Endorphine in meinem Körper ausgelöst werden, und ich nur deshalb danach besser gelaunt bin. Aber das ist es ja gerade: Ein paar chemische Stoffe können etwas „in mir“ bewirken. Ähnlich ist es bei der Meditation, und jeder, der ein wenig meditiert, weiß dies. Eine bewusst eingenommene Körperhaltung wirkt sich auf Geist und Seele aus, bringt mich innerlich in eine andere Haltung und kann so eine Hilfe sein, wenn ich innerlich zur Ruhe kommen und mich auf Gott ausrichten will. Ähnlich ist es mit zeitlichen Rhythmen und Ritualen: Sie können, wenn sie inhaltlich gefüllt sind und regelmäßig praktiziert werden, das Leben eines Menschen in wohltuender Weise beeinflussen. Das kann man selbst dort noch wahrnehmen, wo ein Fest oder Ritual im Laufe der Zeit einen ambivalenten Charakter angenommen hat. Ich denke z.B. an das Weihnachtsfest, das restlos kommerzialisiert und verkitscht wurde, aber nach wie vor Zielpunkt unendlich vieler Sehnsüchte ist. Selbst säkulare Menschen, die Gott längst aus ihrem Leben entsorgt haben, können sich an diesem Fest manchmal einer gewissen Rührung nicht enthalten. All das, was vor und an Weihnachten selbst in Szene gesetzt wird, schafft in Menschen eine bestimmte Disposition, erweckt in ihnen die Sehnsucht nach einem Leben, das mehr ist als bloßes Funktionieren, nach einem feierlichen Leben, nach einem Leben, auf dem ein göttlicher Glanz liegt, nach einem Leben in Harmonie und Freude. Natürlich ist die Enttäuschung umso größer, wenn die Erwartungen einmal mehr nicht erfüllt wurden und deshalb vielen am Ende alles nur noch schal und leer vorkommt. Aber ohne das Fest hätten sie wahrscheinlich nicht einmal mehr die Sehnsucht. Das beeindruckendste Phänomen unserer Tage, an dem die erstaunliche Wirkung des Außen auf das Innen deutlich wird, ist für mich das Pilgern, besonders natürlich das Pilgern nach St. Jakob de Compostella. Tausende Menschen machen sich Jahr für Jahr auf den Weg, gehen einen äußeren Weg und machen dabei die Erfahrung, dass der äußere Weg zum inneren Weg wird und sie als veränderte Menschen in ihren Alltag zurückkehren.

Mit all dem ist eines klar: Es genügt nicht, sich mehr Achtsamkeit in seinem Leben zu wünschen. So wichtig ein solcher Impuls auch ist, er wird schnell verpuffen, wenn es uns nicht gelingt ihn in eine Lebensform zu übersetzen, die uns in der Tiefe unseres Personseins verändert. Das „Leben von innen nach außen“ bedarf der Ergänzung durch das „Leben von außen nach innen“. Wir brauchen Zeiten, in denen wir die so dringend nötige Achtsamkeit neu einüben; Zeiten, in denen wir erfahren, dass unser Leben verdanktes Leben ist, weit mehr als das, was wir selbst schaffen und produzieren können; Zeiten, in denen wir uns so geborgen und aufgehoben fühlen, getragen von Gott und verwurzelt in unserem Seelengrund, dass wir uns wieder heiter und gelassen dem „um uns herum“ zuwenden können. Solche Zeiten können kleine Pausen im Alltag sein. Solche Zeiten können unsere Urlaube sein. Solche Zeiten können Wanderungen und Pilgerwege sein. Hape Kerkeling hat seinen Bestseller, in dem er seinen Pilgerweg nach Santiago beschreib, „Ich bin dann mal weg“ genannt. Ein genialer Titel. Denn wie immer unsere Auszeiten auch beschaffen sind, Hauptsache sie helfen uns, „einmal weg zu sein“, weg von unserem anstrengenden und oft nervigen Alltag, und dort, wo wir wieder die Hoffnung haben, zu einem bewussten Leben zu finden. Dieses „weg sein“ ist sogar Gott wichtig, wenn er an uns Menschen denkt. Es ist ihm so wichtig, dass er uns geradezu befiehlt, zumindest einmal in der Woche „weg“ zu sein. Er verschreibt uns einen regelmäßigen Kurzurlaub von einem Tag, um uns vor dem Burn-out-Syndrom zu schützen. Er hat uns dieses Gebot also nicht gegeben, um uns eine Last aufzuerlegen, sondern um uns zu „ent-lasten“. Wenn das Ganze unter die Kategorie Gebot fällt, dann nur deshalb, weil Gott weiß, dass wir ab und zu solche klaren Weisungen brauchen. Aber es sind Weisungen, die ihren Ursprung in seiner Güte haben. Gott ist wie ein Chef, der seinem Untergebenen befiehlt, einmal richtig Urlaub zu machen, weil er sieht, dass dieser sich dauernd zu viel auflastet. Er ist wie ein Arzt, der seinem Patienten eine Kur verordnet, weil er nicht mehr länger dabei zuschauen will, wie diesem zunehmend Kräfte und Gesundheit abhanden kommen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Gott uns eine wöchentliche Kurzkur verschreibt. Vielleicht deshalb, weil er weiß, dass wir nur dann zu einer Haltung heiterer Gelassenheit, man könnte auch sagen, zu einem shabbatlichen Lebensstil finden, wenn wir regelmäßig üben. Gott setzt darauf, dass die kontinuierliche Übung eine ganz eigene psychologische und spirituelle Dy¬namik in unserem Leben hervorbringen wird, so dass aus arbeitsbesessenen Wichtigtuern doch noch befreite Menschen werden. Vielleicht sind es am Anfang ja wirklich nur kurze Momente, die uns erahnen lassen, dass es noch etwas anderes gibt als unsere dauernde Betriebsamkeit. Aber immerhin: Die Ahnung ist bereits da, und als solche ist sie das „Angeld der Verheißung“ und macht uns hoffentlich auch Lust, den begonnenen Weg weiter zu gehen. Ich bin jedenfalls fest davon überzeugt: Wer immer wieder die Willensanstrengung auf sich nimmt, den Alltag in einem klar begrenzten zeitlichen Rahmen abzuweisen, der wird mit der Zeit merken, dass dadurch etwas Neues in sein Leben hineinkommt, dass aus dem anfangs mühsam geschaffenen Leerraum ein gefüllter Raum wird.

Es geht also nicht um ein formales Ableisten irgendwelcher Riten und Gebote. Es geht darum, etwas im Vertrauen darauf zu tun, dass Gott selbst es mit seiner Wirklichkeit durchdringt und uns so zu neuen Ufern führt. Es liegt nicht in unserer Hand, dass dies sofort geschieht. Aber Gott hat versprochen, sich uns zu schenken, wenn wir nicht zu schnell aufgeben, sondern leidenschaftlich und geduldig suchen, fragen und anklopfen. Schließlich ist er es, der uns in Liebe begegnen und unser Leben heilsam verändern will. Es ist das Paradox jeder echten Spiritualität: Wir können Gotteserfahrung nicht machen und wir können uns selbst auch nicht ändern. Aber wir können Gottes Weisung ernst nehmen und ihm so den Weg in unserem Leben bereiten. Deshalb haben bestimmte Rituale und Bräuche eine so große Bedeutung für unsere Spiritualität. Sie sind wie Kanäle, durch die Gott sein lebendiges Wasser in unser Leben hinein leiten will. Sie sind nicht das Wasser. Sie sind nur Leitungen. Aber indem wir sie anlegen, zeigen wir Gott, dass wir uns das neue Leben von ganzem Herzen wünschen. Und dieses Wünschen ist für Gott ungeheuer wichtig, da er nichts an uns tut, ohne dass wir es wollen. Im Unterschied zu uns Menschen zwingt und vergewaltigt Gott niemand. Mit all dem will ich nicht ausschließen, dass die von uns praktizierten Formen wie der regelmäßig gefeierte Ruhetag auch zu leeren, inhaltslos gewordenen Hüllen werden können. Aber selbst dort, wo dies der Fall ist, können sie noch immer eines sein: Platzhalter für eine Wahrheit, die vielleicht nicht jetzt, aber irgendwann auch für uns wieder ihre Zeit haben wird.

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