Alles Leben, das sich zu Ende denkt, ist Mystik –
War Albert Schweitzer ein Mystiker? Das ist die Frage, mit der wir uns heute Abend beschäftigen wollen. Lassen Sie mich kurz erläutern, warum ich auf diese Frage gekommen bin und was ich mir von ihr erhoffe.
Ich bin Pfarrer und Leiter des spirituellen Zentrums im eckstein (Nürnberg), gleichzeitig Beauftragter für Spiritualität in Nordbayern. Ich beschäftige mich also gewissermaßen beruflich mit Spiritualität und in diesem Zusammenhang auch mit Mystik. Aber was ist das eigentlich, Mystik?
Wenn man diese Frage zu beantworten versucht, dann merkt man sehr schnell, dass es sich bei Mystik wie bei Spiritualität um einen Containerbegriff handelt, in den man so gut wie alles hineinpacken kann. Man kann in einem sehr weiten Sinn von Mystik sprechen, so dass fast jede innere spirituelle oder religiöse Erfahrung mystisch wäre. Aber auch in einem engeren Sinn, sodass der Begriff nur auf Spitzenerfahrungen zielen würde, auf hervorstechende Erleuchtungs- oder Entrückungserfahrungen, die vielleicht nur ganz wenige machen, und auch diese nicht immer. Und was die inhaltliche Qualität angeht, kann man primär an eine personale Erfahrung denken, die Erfahrung göttlicher oder menschlicher Liebe, wo aber Ich „Ich“ und Du „Du“ bleibt. Oder an eine Verschmelzung mit dem Göttlichen, wo das menschliche Ich schließlich im göttlichen Urozean verschwindet. Und neben diesen immer stark erfahrungsbezogenen Formen gibt es auch stark intellektuell ausgearbeitete Theorien, wo man selbst als philosophisch gebildeter Leser schnell die Waffen streckt.
Trotz dieser verwirrenden Vielfalt wird durch dieses Wort in vielen Menschen heute anscheinend etwas angerührt und in Bewegung gebracht: eine Sehnsucht nach Tiefe und Tiefsinn, nach Authentizität und Freiheit, Sinn und Glück, nach einer letzten Geborgenheit und Verankerung in etwas Absolutem.
Deshalb, weil es da anscheinend um etwas geht, lohnt es, den Begriff nicht zu schnell aufzugeben und immer wieder neu nach der Sehnsucht zu fragen, die Menschen mit diesem Wort verbinden. Vielleicht, das ist meine Hoffnung, kann uns Albert Schweitzer, der sich eben auch als Mystiker versteht, bei der Klärung dieser Frage helfen. Wenn ein Mensch wie er, dem es ganz stark um Rationalität, Ethik und praktizierte Humanität geht, plötzlich von Mystik redet, dann lässt mich das jedenfalls aufhorchen.
Eines will ich noch vorausschicken. Ich bin kein Albert Schweitzer-Spezialist. Ich bin jemand, der sich aus Interesse und Neugier auf die Suche gemacht hat und dabei das ein oder andere „Pfündlein“ entdeckt hat. Eines habe ich dabei aber auch entdeckt: So faszinierend Albert Schweitzer ist, methodisch und begrifflich ist er leider nicht immer sehr klar und präzise. Man muss schon immer wieder die eigene Intuition bemühen, wenn er ein Wort manchmal so und dann wieder ganz anders braucht. So kann es sich insgesamt um nicht mehr als eine Annäherung handeln.
Albert Schweitzers Mystik lässt sich nur im Rahmen seiner Ethik begreifen, die er als „Wille zum Leben“ begreift. Ich werde deshalb zuerst kurz auf seine Ethik eingehen, erst dann auf seine Mystik, um im dritten Teil auf die Frage zurückzukommen, welche Anstöße uns Albert Schweitzer beim Thema der Mystik vielleicht geben kann.
1) Albert Schweitzers Ethik als „Wille zum Leben“
Schweitzer hat in seiner Kulturphilosophie dargelegt, dass er auf der Suche nach einer Weltanschauung ist, die den von ihm diagnostizierten Verfall der Kultur überwinden kann. Er will raus aus der Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit, die dazu führt, dass Menschen nur noch vor sich hinleben, sich manipulieren und fremdbestimmen lassen, mit all den unheilvollen Folgen, die wir zur Genüge kennen. Er will, dass Menschen wieder nach dem fragen, worum es eigentlich geht, dass sie überlegen, worin der Sinn des Lebens besteht. Er spricht dabei auch sehr resolut von Wahrheit. Zitat: „Anfang alles wertvollen geistigen Lebens ist der unerschrockene Glaube an die Wahrheit und das offene Bekenntnis zu ihr. Auch die tiefste religiöse Erkenntnis liegt nicht außerhalb des Denkens, sondern muss aus ihm hervorgebracht werden können, wenn es nur tief in sich selbst geht.“ [KPh 71] Die Weltanschauung, die er sucht, das geht aus diesen Sätzen klar hervor, will er denkend begründen und erfassen. Sein Ziel ist, so an anderer Stelle, eine „denkende Weltanschauung“. [KE 67] In gewisser Weise will er zurück zum Rationalismus der Aufklärung, aber zu einem von Fehlentwicklungen gereinigten und erneuerten, „einem lebensfreundlichen Rationalismus“.
Wie findet aber findet man zu einer solchen Weltanschauung? Nach Schweitzer nicht dadurch, dass man den Blick nach außen wendet, um den Sinn der Welt zu erkennen. Die reale Welt, wie wir sie erfahren, ist seiner Überzeugung nach nämlich alles andere als sinnvoll. Er schreibt: „Die Aussichtslosigkeit des Unternehmens, den Sinn des Lebens in dem Sinn der Welt zu begreifen, ist zunächst damit gegeben, dass in dem Weltgeschehen keine Zweckmäßigkeit offenbar wird, in die das Wirken der Menschen und der Menschheit irgendwie eingreifen könnte“. [KE 293] Es muss nur ein angemessen großer Meteor einschlagen oder irgendetwas anderes passieren, und alles ist vorbei. „In dem Hervorbringen und dem Erhalten einer bestimmten Art von Leben verfährt die Natur jeweils in großartiger Weise zweckmäßig. Aber in keiner Weise scheint sie darauf bedacht, diese auf Einzelzwecke gehenden Zweckmäßigkeiten in einer Gesamtzweckmäßigkeit zu vereinen.“ Wenn sich die Welt aber nicht als Buch lesen lässt, dass uns den Lebenssinn auf dem Serviertablett präsentiert, dann bleibt nur noch die Möglichkeit, bei sich selbst anzusetzen, beim eigenen Erleben. Und das, was Schweitzer da erlebt, und von dem er ausgeht, dass jeder Mensch es erlebt, ist der unbändige Drang und Wunsch zu leben. Er spricht hier tatsächlich immer wieder vom „Erleben“, und das zeigt, dass bei Schweitzer die Rationalität nicht nur das logisch-diskursive Denken umfasst, sondern auch das innere Wollen und Erleben. Aus dieser in der Subjektivität des Menschen begründeten Lebensanschauung, die nach Schweitzer allen Menschen gemein ist und deshalb auch ein Fundament für alle sein kann, entwickelt er seine Weltanschauung: „Die fundamentale und unmittelbare Tatsache meines Bewusstsein ist die, dass ich Leben bin, das leben will. … In naturhafter Weise ist mein Verhalten dadurch bestimmt. Fort und fort, in bewussten und unbewussten Akten bejahe ich mein Leben.“ [KPh III 1/2, 426]
Schweitzer spricht nicht nur von Lebensbejahung, er spricht von der Ehrfurcht vor dem Leben. In dem Wort Ehrfurcht steckt Staunen, Faszination, auch ein Nicht-Begreifen. Ist es nicht ein Wunder, dass es etwas gibt, das leben will? Man kann Leben beschreiben, aber kann man es wirklich verstehen? Deshalb hat diese Erfahrung auch eine religiös-mystische Dimension. Man rührt an den tiefsten Grund des Seins. „Ehrfurcht vor dem Leben ist Ergriffensein von dem unendlichen, unergründlichen, vorwärtstreibenden Willen, in dem alles Sein gegründet ist.“ [KE 303]
Aber was versteht Schweitzer unter Lebensbejahung? Den biologisch-physischen Lebenstrieb, der alles tut, um am Leben zu bleiben, der versucht Schmerz und Leid zu reduzieren, der den Tod vermeiden will? Ja, dieser Lebenstrieb ist die Basis. Aber Lebensbejahung ist mehr! Es geht nicht nur darum, irgendwie zu leben, sondern gut zu leben, sinnvoll, erfüllt. Deshalb gehört wie bei Fichte zum Beispiel auch das Wirken dazu. Leben will sich gestalten, sich ausdrücken, will wirken. Aber Schweitzer kann auch von dem Willen der Liebe sprechen, dem Willen zur Freiheit, dem Willen zu einem höheren Leben im Sinne von Selbstvervollkommnung. Was versteht er denn unter Selbstvervollkommnung. Antwort: „dass der Mensch in das wahre Verhältnis zum Sein, dass in ihm und außer ihm ist, komme. Aus der natürlichen äußeren Zugehörigkeit zum Sein will er eine geistige, innerliche Hingabe an dieses machen und sein leidendes und tätiges Verhalten zu den Dingen durch diese Hingabe bestimmt sein lassen.“ [KE, 320] Mit anderen Worten, und höchst unmodern: Es gibt ein wahres Sein, ein Ideal, das mir aber nicht aus einem fernen Jenseits, einer Überwelt zukommt, sondern zuerst aus mir, und dann auch aus der Wirklichkeit, und diesem letzten Seinsgrund gilt es zu entsprechen. Ich könnte auch sagen: Werde, der du bist, der du im Grunde deines Seins bist!
Eine entscheidende Frage ist nun allerdings noch offen. Bedeutet diesem Leben, das in mir ist, zu folgen, dass ich nur an meiner eigenen Lebensentfaltung arbeite? Nein! Schon sein bekannter Satz „Ich bin Leben, inmitten von Leben, das leben will“ deutet darauf hin, das derjenige, der den Lebenswillen in sich entdeckt hat, automatisch mit allen anderen Lebewesen verbunden ist, die leben wollen. Er entdeckt diesen Lebenswillen in anderen Menschen, in Tieren und Pflanzen, sicher in abgestufter Weise, aber so, dass die Ehrfurcht vor dem Leben ihm auch gebietet, das Leben in anderen zu schützen und zu fördern. Der Blick nach außen, das Erkennen, lässt ihn oder sie begreifen, dass der Lebenswille das grundlegende Prinzip ist, dem sich all mein Streben anzuschließen hat, wenn es wirklich Wille zum Leben ist. Erst dieses reflexive Moment lässt aus meiner ganz persönlichen Lebensanschauung eine Weltanschauung werden und liefert damit auch das Fundament für eine allgemein gültige Ethik. Auch Nietzsche setzt bei diesem ungestümen Lebensdran an, aber endet im Willen zur Macht. Hier geht Schweitzer einen anderen Weg, für mich plausibel, auch wenn es fraglich ist, ob Schweitzers Weg, wie er will, wirklich denknotwendig ist.
Wenn man so wie Schweitzer denkt, dann sieht man sich freilich mit einer schwierigen Situation konfrontiert. Denn die Welt, in der wir leben, auch die Natur, ist keineswegs so strukturiert, dass die Ehrfurcht vor dem Leben alles bestimmt. Vielmehr kommt es unweigerlich zu Interessenskonflikten. Was ist, wenn andere Menschen meinen Lebensdrang einschränken? Was ist, wenn am Ende augenscheinlich der Tod und die Vernichtung siegen? Wie kann ich mich einer Ehrfurcht des Lebens verschreiben, wenn es oft unvermeidlich ist, für das Leben der einen das Leben anderer zu opfern? Ist die Gefahr nicht groß, dass alles in Resignation und Pessimismus endet?
Hier, so könnte man sagen, beginnt nun die eigentliche Ethik, und diese zeigt sich darin, dass ich trotz aller Widersprüche und Anfechtungen dem Leben treu bleibe, weil ich nur so mir treu bleibe. Schweitzer plädiert für einen lebensfreundlichen Optimismus, auch wenn der sich nicht weltanschaulich als richtig beweisen lässt, und das deshalb nicht, weil mir ein umfassendes Erkennen der Welt unmöglich ist. „Das Erkennen der Welt kann ihm (dem Willen zum Leben) nachweisen, dass sein Bestreben, sein eigenes Leben und alles von ihm beeinflussbare Lebendige auf den höchsten Wert zu bringen, in dem Verlauf des Weltganzen problematisch bleibt. Er wird dadurch nicht irre gemacht. Seine Welt- und Lebensbejahung trägt ihren Sinn in sich selbst.“ [KE, 303] Schweitzer geht aber noch weiter: Er fordert nicht nur am Lebenswillen festzuhalten, sondern eigene Lebensverneinung zu bejahen, wenn diese dazu dient, das Leben anderer zu fördern. Paradoxerweise bleibe ich mir also nur treu, wenn ich das Leben anderer auch dann fördere, wenn mein Leben dadurch eingeschränkt wird. Man kann Ethik so begründen, denknotwenig ist das nicht. Wir werden darauf noch zurückkommen.
2) Albert Schweitzers Verständnis von Mystik
Welche Rolle spielt in dieser Konzeption nun die Mystik? Was versteht Albert Schweitzer, der den Begriff gar nicht so selten bemüht, darunter?
Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen, in dem er so etwas wie eine Definition von Mystik liefert: „Durch alle Zeiten hindurch geht die Mystik als die innerlichste Weltanschauung neben den anderen einher oder tritt in ihnen auf. … Mystik liegt überall da vor, wo das Denken sich nicht dabei aufhält, eine Lehre über die Welt aufzustellen und aus ihr Folgerungen für das Verhalten des Menschen zu ziehen, sondern in unmittelbarer Weise mit den großen, allen anderen in sich enthaltenden Fragen unseres geistigen Einsseins mit dem unendlichen Sein beschäftigt ist und sie zu lösen unternimmt. Mystik ist also Naturphilosophie, auf die zentrale Frage der Weltanschauung konzentriert“ (KPh III 1/2, 154).
In diesem Zitat spricht er vom „geistigen Einssein mit dem unendlichen Sein“, was seiner Meinung nach offensichtlich das Ziel der Mystik ist. Aber was ist das, das „unendliche Sein“? Mit was soll ich da eins werden? Ist dieses Sein Gott? Das Absolute? Ursprung und Grund aller sichtbaren Wirklichkeit? Was immer es auch ist, für Schweitzer darf es keine Abstraktion sein, nichts, was hinter oder über der Wirklichkeit liegt, sondern etwas, das in der Wirklichkeit selbst zur Erscheinung kommt. Er will um jeden Preis ein dualistisches Weltbild vermeiden, das die konkrete Wirklichkeit geringschätzt und das Gute, Wahre und Schöne jenseits dieser Wirklichkeit sucht. Er ist kein Platoniker. Er will wie er selbst sagt, eine elementare Mystik. „Wirklich ist nur das in Erscheinungen erscheinende Sein.“ [KE 325] Normalerweise unterscheidet man an dieser Stelle zwischen konkretem Dasein und dem Sein. Für Schweitzer gibt es nur das Sein. „Hingebung meines Seins an das unendliche Sein ist Hingebung meines Seins an alle Erscheinungen des Seins“ [KE 362]. Dieses Sein ist für ihn, wir erahnen es schon, natürlich der Wille zum Leben! Diesen Willen zum Leben versteht er als etwas Geistiges, aber etwas Geistiges, das nicht vom Materiellen zu trennen ist. Positiv, man könnte auch sagen metaphysisch, vermeidet er jede Festlegung. Er spricht weder von Gott oder von einem Weltgeist. Er benutzt nur die Kategorie des Geheimnisses, weil er der Meinung ist, dass man dieses höchste Sein als Mensch nicht begreifen kann.
Was bedeutet es nun, mit diesem Sein eins zu werden? Denn das ist ja das Ziel seiner Mystik. Denkt er an innere Versenkungszustände, an ein ekstatisches Erlebnis? Nein. Mystik hat für ihn überraschenderweise etwas mit Denken zu tun, mit Rationalität. Aber nicht mit nüchternem Denken, sondern mit einem Denken, das zu einem inneren Erlebnis wird: „Irgendwie muss aus tiefstem Denken zuletzt ein Erleben kommen. Irgendwie muss das zum Feuer zusammengetragene Holz in Brand geraten.“ [KPh III 1/2] „Denkerlebnis“ nennt er das. Und an anderer Stelle sagt er: „Von meiner Jugend an war es mir gewiss, dass alles Denken, wenn es sich zu Ende denkt, in Mystik ende.“ [KE 90] War sein berühmtes Nilpferderlebnis so ein mystisches Erlebnis? Da fährt er auf einem afrikanischen Fluss und berichtet im Nachhinein: „Am Abend des dritten Tages, als wir uns beim Sonnenuntergang in der Nähe des Dorfes Igendja befanden, mussten wir an einer Insel in dem über einen Kilometer breiten Fluss entlang fahren. Auf einer Sandbank, zur Linken, wanderten vier Nilpferde mit deren Jungen in derselben Richtung wie wir. Da kam ich in meiner großen Müdigkeit und Verzagtheit plötzlich auf das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben‘, das ich, so viel ich weiß, nie gehört oder gelesen hatte. Alsbald begriff ich, dass es die Lösung des Problems, mit dem ich mich abquälte, in sich trug.“ Dieses Erlebnis wäre nie möglich geworden, wenn er sich nicht wund gedacht hätte, aber das, worauf sein Denken zielte, fiel ihm dann irgendwie auch gnadenhaft in den Schoß. Er selbst nennt dieses Erlebnis nicht mystisch, aber vielleicht kann dieses Erlebnis doch illustrieren, was er mit „Denkerlebnis“ meint.
Man kann aber nicht nur durch das Denken mit dem Sein eins werden. Noch zentraler ist für ihn das Tun, das tätige Eins-Werden-Wollen. In der tätigen und ethischen Hingabe geht der Mensch eine Beziehung zum lebendigen Sein ein. [Kowarsch 95] Er bleibt nicht nur bei sich, sondern gibt sich in Liebe an das Leben anderer hin, sodass es zumindest an einem bestimmten Punkt in dieser Welt dazu kommt, dass das eigene Lebensstreben mit dem eines anderen Wesens eins wird und damit der Willen zum Leben allen Seins in einem bewussten Akt bejaht und vollzogen wird. In der Welt stehen ja oft die verschiedenen Lebenswillen in einer elementaren Spannung zueinander, in einem Konflikt. In der Tierwelt gibt es Fressen und Gefressenwerden, survival oft he fittest. In der Menschenwelt Narzissmus, Gewalt und Mord. An dem Punkt, wo ich diesen Widerspruch bewusst überwinde, zum Preis der Reduktion meines eigenen Lebens, gebe ich dem Leben auf einer tieferen Ebene recht. „Als Wirken wähle ich, die Selbstentzweiung des Willens zum Leben aufzuheben, soweit der Einfluss meines Daseins reicht. [Eventuell auch Zitat Kowarsch 96 oben] Bezüge zur paulinischen Mystik!
Was bedeutet Einssein mit dem Sein, mit dem Willen zum Leben, wenn man es unter dem Aspekt der individuellen Person betrachtet? Muss ich meine Individualität aufgeben, wie dies bei manchen Identitätsmystiken der Fall ist? Nein, eher so, dass ich mich an den Strom des Lebens hingebe und mich dadurch auf einer tieferen Ebene wiederfinde. [Kowarsch 88] Er spricht hier von Harmonie. Das ist etwas anderes als Verschmelzung.
In dieser Weise kann jeder ein Mystiker sein oder eine Mystikerin, die Anlage ist in allen da, aber nicht alle entwickeln und vollziehen sie in einer geistigen Tat.
Lassen Sie mich zum Schluss dieses Kapitels fragen, welche Bedeutung die Mystik für Schweitzer hat. Ist sie nur ein Zuckerguss, der seiner Ethik und Weltanschauung eine gewisse Tiefe und einen geheimnisvollen Nimbus gibt, die er aber eigentlich gar nicht braucht, weil er seine Ethik rein rational ausreichend begründen kann? Oder will er nur zeigen, dass sein System mit Mystik kompatibel ist, wenn man Mystik in seinem Sinn versteht. Oder hat Mystik für ihn tatsächlich eine elementare und sein ethisches System begründende Bedeutung? Es ist nicht ganz einfach, auf diese Frage eine Antwort zu geben, da Schweitzer, wie bereits anfangs erwähnt, nicht immer ganz widerspruchsfrei und kohärent in seiner Begrifflichkeit und seinen Äußerungen ist. Aber ich neige zu, die Frage in letzterem Sinn zu beantworten. Albert Schweitzer ist tatsächlich auch Mystiker, und die Mystik ist für seine Ethik durchaus von Bedeutung. Warum? Seine Ethik beruht auf dem Willen zum Leben, den ich in mir vorfinde. Ich will leben, nicht nur physisch, sondern auch auf einer höheren Ebene. Diese wiederum erreiche ich nur, wenn ich in ein wahres Verhältnis zum Sein eintrete. Dieses Eins-Werden mit dem Sein ist für ihn durchaus rational, aber eben ein Denkerlebnis, wo sich schon etwas Mystisches zeigt. Vollendet wird diese Mystik, wo ich mit dem Lebensstrom aller innerlich eins werde, im Geist und in der Tat, sodass ich die Entzweiung in dieser Welt überwinde und durch tätige Hingabe an das Leben anderer den Widerspruch in der Welt überwinde. Erst das innere Einswerden mit dem Willen zum Leben führt zur Selbstvervollkommnung und zu der Ethik, die Schweitzer vor Augen steht. Mit einem rein rationalen Denken bliebe seine Ethik formal richtig, aber innerlich schwach, nur im Analogieschluss begründet, nicht in der Tiefe meines Bewusstseins.
3) Was bringt die Beschäftigung mit Albert Schweitzer für unser heutiges Suchen nach Mystik? – vier Überlegungen
Zum Schluss möchte ich wie anfangs angekündigt vier Überlegungen einbringen, die zeigen, welche Resonanz die Beschäftigung mit Albert Schweitzer bei mir als christlichem Theologen hervorgerufen hat. Dabei geht es vor allem um die Frage, inwieweit Schweitzer uns bei dem Versuch helfen kann, Mystik in einem christlichen Kontext zu denken.
1) Mein erster Gedanke hat die Beziehung von Rationalität/Denken und Mystik zum Inhalt. Wir neigen ja oft dazu, Mystik als etwas zu verstehen, dass dem Denken entgegengesetzt ist. Mystik hat mit der Wendung nach innen zu tun, mit Gefühl und Erleben, mit innerem Bewusstsein, aber nicht so sehr mit Rationalität, die wir eher in der diskursiv-rationalen Wissenschaft verorten.
Schweitzer bricht diesen Gegensatz auf. Mystik ist Denkerlebnis. Ein Denken, das sich zu Ende gedacht hat, wird zur Mystik. Ich finde diesen Gedanken anregend, weil hier das Denken, die menschliche Rationalität zwei Dimensionen hat, die meines Erachtens zusammengehören. Ja, unserer Rationalität hat die Dimension des diskursiv-analytischen Denkens, wie es in der Wissenschaft äußerst wirkungsvoll und fruchtbar zur Anwendung kommt. Aber unser Denken will als leidenschaftlich-existentielles Denken den Dingen auch auf den Grund gehen. Es will verstehen, es will auf einer tieferen Ebene vernehmen, und gerade, wenn es sich radikal zu Ende denkt, stößt es auf Fragen und Antworten, die die Ebene der rein diskursiven Denkoperationen transzendiert. Ein Beispiel: Ich kann Leben, z.B. eine Zellkultur, auf der Petrischale erforschen und beschreiben, aber je tiefer ich vordringe, desto mehr spüre ich, dass ich an eine Grenze komme, weil ich das Leben selbst nicht fassen, sondern nur noch staunen kann, in Ehrfurcht staunen kann, dass es so etwas gibt. In der von der Aufklärung bestimmten Geistesgeschichte der letzten drei Jahrhunderte sind wir in der wissenschaftlichen Erklärung der Welt weit fortgeschritten, wir haben die Außenseite der Dinge gründlich erforscht, aber wir haben dabei oft vergessen, dass die Wirklichkeit auch eine geistige Innenseite hat und dadurch die Welt entzaubert. Vieles ist platt und schal geworden. Vielleicht ist es nun an der Zeit beides wieder zusammenzudenken. Kurz: Wir werden uns selbst und der Wirklichkeit nur gerecht, wenn wir die zwei Perspektiven zusammennehmen. An die Seite der Wissenschaft muss eine poetisch-philosophische oder poetisch-religiöse Erzählung treten. Wissenschaft darf nicht reduktionistisch werden …, aber natürlich darf auch die poetische Deutung nicht totalitär-fundamentalistisch werden, und bei Letzterem kann vielleicht die Mystik helfen, die auf eine Dimension geistiger oder göttlicher Wirklichkeit hindeutet, der wir uns immer nur annähern können.
Übrigens: Meister Eckhart, der heute oft als Mystiker verstanden wird, zu Recht oder Unrecht, war ebenfalls ein leidenschaftlicher intellektueller Denker, der sein Denken immer wieder radikal überstiegen hat und Gott letztlich als die Wirklichkeit begriffen hat, die ich nicht fassen kann, wo ich alle Begriffe immer wieder loslassen muss, um für den wirklichen Gott offen zu werden. In bestimmter Hinsicht sind Schweitzer und Eckart gar nicht so weit voneinander entfernt. Interessant: An einer Stelle sagt Eckhart: Wenn ich das Leben fragen würde, warum es lebt, dann würde es sagen: weil ich lebe, im Sinne Schweitzers könnte man vielleicht auch sagen: weil ich leben will. Beide Male stoßen wir auf etwas, das wir nicht mehr begründen können, und das doch elementar ist.
2) Mein zweiter Punkt betrifft die Frage des Tuns, der Ethik, des Vollzugs. Nach Schweitzer erlange ich mystische Einheit nur dort, wo ich mich dem Leben tätig verschreibe, und das hat er ja sein ganzes Leben leidenschaftlich versucht. Mystik geht also nicht ohne Engagement. Ein jüdischer, mystisch geprägter Theologe, Abraham Heschel hat einmal gesagt: „Der Jude ist aufgefordert, den Sprung der Tat zu wagen, mehr zu tun als er versteht, damit er mehr versteht als er tut.“ Wenn Schweitzer das Tun propagiert, dann will er eben nicht nur Aktivismus, er will durch das Tun tiefere Erkenntnis, Mystik gewinnen. Darin ist er ein guter Erbe der jüdisch-christlichen Tradition auch ein guter Nachfolger des Jesus von Nazareth.
Auch hier hat man oft das Vorurteil, dass Mystik wenig mit Tun und Engagement zu tun hat, sondern man auf dem Meditationsschemel sitzt, bis man die Erleuchtung hat. Aber auch das ist eben ein Vorurteil: Viele christliche Mystiker waren sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass das Tun auch eine Form der Mystik ist. Der bereits erwähnte Eckhart geht dabei so weit, dass er das berühmte Gleichnis von Martha und Maria radikal uminterpretiert und dadurch das Tun über die fromme Betrachtung stellt. (…) Also, um es kurz zu sagen: Gott ist mitten im Leben gegenwärtig, und dort, wo ich mich im Geist der Liebe engagiere, bin ich ihm näher, oder genauso nahe, wie wenn ich bete oder meditiere. Es geht um eine Grundhaltung, die Gott überall sucht und findet.
3) Es gibt einen Denker, der in gewisser Weise Albert Schweitzer sehr nahe ist: Teilhard de Chardin. Teilhard, ein versierter Paläontologe, aber auch Christ und Mystiker, hat die Evolutionstheorie christlich interpretiert. Er sieht im Entstehen des Werdens und Lebens den in der ganzen Schöpfung wirkenden Christus, der die Schöpfung nicht von oben her determiniert, aber sie, in ihr gegenwärtig und wirkend, zu immer höheren Zielen lockt, bis dereinst Gott alles in allem sein wird, aber eben nicht so, dass er alles Menschliche vernichtet, sondern es zum Ziel führt.
Diese explizit christliche Deutung des Willens zum Leben finde ich bei Schweitzer nicht, aber man könnte Schweitzer so weiter denken, wobei natürlich auch Teilhard kritisch betrachtet werden muss. Ich will damit nur sagen: Schweitzer Ansatz reizt hier zum Weiterdenken, und da sich die Rede vom kosmischen Christus auch in christlicher Schöpfungsspiritualität im Moment großer Beliebtheit erfreut, wäre das ein vielleicht durchaus lohnenswertes Unterfangen.
4) Mein letzter Punkt, vermutlich auch der gegenüber Schweitzer kritischste:
Ich neige zur Mystik, weil ich der Überzeugung bin, dass die Wendung nach innen notwendig ist, wenn wir tiefer erkennen wollen, wer wir sind. Ich denke, dass wir heute, um Erich Fromms Buchtitel Haben oder Sein aufzunehmen, vor der Entscheidung stehen, ob wir uns vor allem vom Haben oder vom Sein her definieren wollen. Verkürzt gesagt: Bin ich jemand, weil ich möglichst viel habe, Besitz, Erfolg, Anerkennung oder Macht. Oder kann ich mir diese oft sehr erschöpfende Macht sparen, weil ich schon jemand bin. Als Christ würde ich sagen: Ich bin schon immer jemand, ein unbedingt von Gott geliebter Mensch. Das muss am Anfang stehen, und das zu begreifen ist eine lebenslange Aufgabe, auch angesichts der Gebrochenheit unseres Lebens.
Deshalb finde ich es wichtig, nach innen zu gehen, sich in der Tiefe wahrzunehmen, um sich im Lichte der göttlichen Liebe zu begreifen und dann die Menschen und die Welt im Lichte dieser Liebe zu sehen.
Schweitzer geht auch in sich. Er entdeckt in sich den Willen zum Leben. Er entdeckt im Leben etwas Unbegreifliches, etwas Geheimnisvolles, etwas ehrfürchtig zu Hütendes. Das ist viel. Aber es ist mir nicht genug. Ich vermisse bei seiner Mystik Gott als den uns liebenden Schöpfer. Meine Überzeugung ist, dass ich das Leben in seiner Herrlichkeit erst dort richtig erfasse, wo ich es als Gabe dieses liebenden Gottes begreife. Es ist schön, wenn ich ein Geschenk bekomme, aber es ist noch schöner, wenn ich verstehe, dass hinter diesem Geschenk einer ist, dem ich unendlich kostbar bin. Also nicht nur: Ich bin Leben, das leben will, sondern: Danke, du unendliche Liebe, dass du mein und unser Leben willst. Christliche Mystik muss meines Erachtens personale Mystik sein, dialogisch, Liebesmystik.
Ich frage mich, warum Schweitzer, der ja auch berühmter Theologe war, diesen Schritt nicht vollzogen hat. Wollte er in seiner Kulturphilosophie einfach nicht so weit gehen, weil es eine Philosophie und Mystik für alle sein sollte? Hat er also vielleicht sogar so gedacht, aber es eben bewusst nicht öffentlich artikuliert. Ich weiß es nicht. Aber über diese Frage würde ich, wenn ich dazu die Möglichkeit hätte, gerne mit ihm ins Gespräch kommen.