Der kosmische Christus und Jesus von Nazareth
von Peter Hirschberg
Es soll heute Abend um das Verhältnis zwischen dem kosmischen Christus und Jesus von Nazareth gehen. Worum geht es da im Kern? In einer ersten Annäherung könnte man vielleicht sagen: Es geht um die Frage, wo wir Gott in unser Wirklichkeit finden und erfahren können? Wo ist der Ort seiner Präsenz in dieser Welt? Ich nehme das Wort „Christus“ in einem ersten Anlauf also als Bezeichnung für den Ort Gottes in dieser Welt.
Wenn Christen und Christinnen heute vom kosmischen Christus sprechen und damit zum Ausdruck bringen wollen, wo Gottes Gegenwart in dieser Welt zu finden ist, dann optieren sie für eine Aussage von großer Weite und Tiefe. Gott, so könnte man sagen, ist überall gegenwärtig und wirkend: In der Materie, in der belebten Biosphäre und natürlich auch im Menschen. Er ist nicht nur überall präsent und wirkend, er kann im Prinzip auch überall erfahren werden. Seine Präsenz und sein Wirken sind nicht auf eine bestimmte Religion zu begrenzen, auch nicht auf das Christentum. Er ist „univer-sal“, und so heißt auch das populäre Buch von Richard Rohr: „Der universale Chris-tus“. In theologischer Perspektive müsste man hier von Pan-en-theismus sprechen. Gott ist nicht mit der Welt identisch. Das wäre Pantheismus. Er ist aber auch nicht streng von der Welt getrennt. Das wäre der klassische Deismus. Nein: Er ist und wirkt in allem, sozusagen als innerweltliches Gegenüber der Welt. Er begleitet den Schöp-fungsprozess auf dialogische Weise.
Wenn Christen und Christinnen dagegen auf die Frage, wo Gottes Ort in der Welt ist, antworten „in Jesus Christus“, dann ist der Blick von vornherein auf einen konkreten Menschen fokussiert: eben auf den Juden Jesus von Nazareth, der vor 2000 Jahren gelebt hat. Diesen einen Menschen hat Gott als seine bevorzugte Wohnstätte erwählt. An ihm kann ich ablesen, wer Gott ist, wie er wirkt, und ganz entscheidend dabei ist, dass ich an ihm auch ablesen kann, was wahres, von Gott gewolltes Menschsein be-deutet. Jesus Christus ist gleichermaßen der Ort der Gottesbegegnung und Gotteserfah-rung, die personifizierte göttliche Einladung, in der Zuwendung und Gemeinschaft mit ihm die Fülle des Lebens zu finden. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben!
Meine Vermutung ist, dass vielen Christen und Christinnen heute die Rede vom kos-mischen Christus sehr sympathisch ist, und dass sie ihnen deshalb so sympathisch ist, weil hier ein weiter Horizont eröffnet wird, der offen dafür ist, dass Gotteserfahrung überall möglich werden kann: in Gottes Schöpfung, in anderen kulturellen und religiö-sen Kontexten, und eben nicht nur, um es etwas provozierend zu formulieren, am Sonntag im christlichen Gottesdienst. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass Anhänge-rInnen des kosmischen Christus ihre Sicht gegen Jesus als Ort der Gotteserfahrung in Stellung bringen, und doch haben manche vielleicht die Befürchtung, dass bei einer zu starken Konzentration auf Jesus alles einen sehr partikularen, ausgrenzenden, überheb-lichen, ja vielleicht sogar fundamentalistischen Zug bekommt. Im Extremfall: extra ecclesiam nulla salus – außerhalb der Kirche gibt es kein Heil!
Demgegenüber sehen konservativere Christen in einer zur starken Fixierung auf den kosmischen Christus wohl die Gefahr, dass in einer zu universalen Öffnung alles be-liebig wird, manches als Gotteserfahrung hochstilisiert wird, das noch lange keine sol-che ist, ja man sich vielleicht auch für Einflüsse öffnet, die schädlich sind und eher von Gott wegführen. Man hat Angst davor, dass die Identität christlichen Glaubens preis-gegeben wird.
Sie können ja einmal überlegen, was in Ihrer spirituellen Entwicklung eher prägend war: die Fokussierung auf Jesus Christus als sehr konkretem Gegenüber oder die Of-fenheit dafür, dass es Gotteserfahrung überall geben kann?
Meine These ist, dass beide Zugangsweisen, kosmischer Christus und Jesus von Naza-reth, zusammengehören, ja dass gerade die Verbindung die Voraussetzung für eine gesunde und heilsame christliche Spiritualität ist. Ich möchte dies mit einem Text dar-legen, der für unser Thema zentral ist: dem Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1-14). In lade Sie also zu einer Bibelarbeit ein, um dann am Ende daraus einige Folge-rungen zu ziehen, die vor allem den Bereich der Schöpfungsspiritualität betreffen. Ich will dabei nicht zu exegetisch werden, das würde unseren Rahmen sprengen, aber ganz ohne Exegese wird es nicht gehen.
I Der kosmische Christus und Jesus von Nazareth
Ich lese ihnen den Text nicht vor, möchte Ihnen aber kurz Zeit geben, ihn für sich ein-mal aufmerksam durchzulesen. Vielleicht wundern Sie sich über das unterschiedliche Schriftbild. Das hängt damit zusammen, dass die meisten Exegetinnen davon ausge-hen, dass der Endredaktor des Evangeliums hier einen alten Hymnus eingearbeitet hat, der mit großer Wahrscheinlichkeit aus der johanneischen Gemeinde bzw. Schule kommt. In diesem Hymnus ist das Thema des „kosmischen Christus“, der hier als Lo-gos, als Wort bezeichnet wird, profiliert entfaltet: vor allem in den Versen 1-4, auch noch im ersten Teil der Verse 9-13, wobei hier bereits ein starkes Gefälle hin zur Men-schwerdung gegeben ist. Auch für den Endverfasser des Evangeliums ist die Rede vom präexistenten Christus von hoher Bedeutung, sonst hätte er ihn nicht aufgenom-men und dazu ganz prominent an den Anfang seines Evangelium gestellt. Der kursiv gesetzte Text ist der des Hymnus. Die in Blocksatz gesetzten Abschnitte dagegen ge-hen auf den Evangelisten zurück.
In diesem Text geht es zentral um das Wort. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war, so müsste man genau übersetzen, „Gott von Art“ oder „göttlich“.“ Im Griechischen steht für Wort Logos. Man kann bei Logos an die griechi-sche Philosophie denken, z.B. an die Stoa, wo der Logos als die in der Welt wirkende göttliche Vernunft gedacht wird. Oder an Philo von Alexandrien, den jüdisch-hellenistisch geprägten Gelehrten, der viel griechisches Denken integriert hat. Man kann aber auch an die alttestamentliche Weisheit denken, die man sich in der späten alttestamentlichen Weisheitsliteratur als eigene göttliche Größe mit personalen Zügen vorgestellt hat. Die Weisheit ist das erste der göttlichen Schöpfungswerke (Sprüche 9,22). Sie ist Gottes „Weltordnungsexpertin“ (Baumann). Wer weise leben will, der muss sich für sie öffnen. Sie hat aber auch selbst ein Interesse am Menschen. Sie will unter den Menschen und unter Israel wohnen (Jesus Sirach 24). Bei Wort kann man natürlich auch ganz einfach an das atl. Gotteswort denken, durch das Gott redet und wirkt. Der jüdische Evangelist dürfte vor allem am atl. Hintergrund interessiert sein, besonders an der kurz skizzierten Weisheitsspekulation. Vier Aspekte sind für ihn ent-scheidend, wenn er an den Logos denkt:
1. Der Logos ist eine eigene Größe. Er kommt ursprünglich aus Gott, ist also kein Geschöpf. Er ist aber auch nicht undifferenziert „einfach“ Gott. Viel-leicht könnte man das Gemeinte so umschreiben: Er ist göttlich, aber der gött-liche Ursprung, aus dem er kommt, ist irgendwie noch größer, umfassender.
2. In Vers 3 steht: „Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist“ (V. 3). Durch den Logos, ganz analog zur atl. Weisheit, schafft Gott also die Welt, sodass man sagen könnte: Alles trägt die Handschrift des Logos. Wie die Weisheit ist auch der Logos eine Art Weltordnungsexperte.
3. Im vierten Vers bewegen wir uns in dem Bereich, den man klassisch unter das Stichwort creatio continua einordnen könnte. Gottes Schaffen ist nicht nur ein anfängliches, es ist fortdauernd: Würde er der Schöpfung nicht jede Sekunde „Sein“ zukommen lassen, sie über dem Nichts halten, sie von innen her be-wegen, würde alles wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. V. 4 geht freilich noch über das „Erhalten“ und „Sich-Entwickeln-Lassen“ der Schöp-fung hinaus. Es heißt dort: „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.“ In ihm war das Leben. Hier ist nicht primär an das bio-logische Leben gedacht, weil im Griechischen nicht bios, sondern zoe steht. Zoe meint so etwas wie „erfüllte Lebendigkeit“. Es geht also nicht nur um bloßes Leben, man könnte auch sagen „dahinleben“, sondern um ein sinnvol-les, ein erfülltes Leben. Diese erfüllte Lebendigkeit charakterisiert den Logos, und mit dieser erfüllten Lebendigkeit beschenkt er auch die Menschen. Men-schen erleben dies als etwas Lichtes, als etwas Erhellendes. Deshalb heißt es hier auch: das Leben war das Licht der Menschen! In Vers 9 wird dann noch gesagt: Das Licht erleuchtet jeden Menschen, der in die Welt kommt. Wenn wir sagen, dass ein Kind das Licht der Welt erblickt, dann müsste man dieses Licht vom Prolog her als etwas verstehen, das zumindest auch spirituelle Qua-lität hat, obgleich es nicht vom physischen Licht zu trennen ist. Das Licht er-hellt den Menschen, indem es ihn im Reichtum und der Vielfalt seiner Welt-bezüge öffnet für das Wunder des Seins. Gleichzeitig lässt es ihn auch sich selbst erkennen, als Quelle von Lebendigkeit. All das kann man gerade bei Kindern bestaunen.
Das sind erstaunliche Aussagen, wenn man bedenkt, dass es hier noch nicht um den in Jesus Mensch gewordenen Logos geht, sondern um den schon immer in der Schöpfung wirkenden Logos, in unserer Terminologie: den kosmischen Christus.
4. Nach diesen Punkten könnte man Halleluja rufen angesichts dieser atembe-raubend weiten, universalen und sehr positiven Theologie. Doch jetzt kommt irgendwie ein Paukenschlag. Der Paukenschlag heißt: „Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“ Hier ist noch nicht von der Ablehnung des Evangeliums die Rede, nicht vom Unglauben gegen-über Jesus, sondern vom Umgang des Menschen mit dem Licht, das schon immer in ihm ist.
Ich möchte nun der Frage nachgehen, wie man die Spannung vom Leben- und Licht-geben des kosmischen Christus und seiner Ablehnung durch die Menschen deuten könnte. Eines, denke ich, ist klar: Am Beginn und im Ursprung der Schöpfung und unseres Menschseins stehen das Licht und die Bejahung. Das ist zu betonen, weil man die Bibel oft im Lichte einer zu pessimistischen Anthropologie gelesen hat. Nein, hier beginnt alles wirklich mit der Gnade, mit der Schöpfungsgnade, nicht mit der Sünde und nicht mit der Dunkelheit (vgl. Gen 1). Hier ist nicht davon die Rede, dass dann irgendwann durch einen mythischen Fall die Lichter in uns ausgingen. Das Licht ist und bleibt in uns. Richard Rohr hat diesen Punkt immer wieder betont. Er schreibt: „Das Christusgeheimnis segnet und salbt von Anfang an die gesamte physische Mate-rie mit einer ewigen Berufung (S. 31).“ Er spricht von einer göttlichen DNA, die jeder Mensch in sich trägt (S. 40). Und dann: „Der Wesenskern des Glaubens besteht darin, anzunehmen, dass du angenommen bist (S. 40).“
Dennoch, und das darf eben auch nicht unterschlagen werden, ist in unserem Text sehr einschneidend von der Finsternis die Rede. Die ist auch in uns. Was ist mit dieser Fins-ternis gemeint? Die Finsternis ist die Macht der Verdunkelung. Wir sehen das Licht in uns und außerhalb von uns nicht mehr. Ich bin zwar von Gott angenommen, aber ich kann es nicht mehr glauben, sondern meine, mir meine Würde erst verdienen zu müs-sen: durch mein Wirken, durch Erfolg, durch Anerkennung, Sympathie und Macht. Ich lebe in einer Welt von Wundern, aber ich sehe diese Wunder nicht mehr, weil ich so mit mir beschäftigt bin (Heidegger: Sorge). Ich habe keine Antenne mehr für das, was mir positiv entgegenkommt. Da ist Herrlichkeit, in uns und um uns herum, aber wir sehen sie nicht mehr. Die Welt hat ihren Zauber verloren. Die Wissenschaft gibt nur noch der instrumentellen Vernunft Raum, sodass der Eindruck entsteht, zumindest ent-stehen kann, dass die Dinge keine Innenseite haben. Alles wird schal und kalt. Ich sage damit nicht, dass es immer und überall so ist. Das Licht ist immer noch da. Es ist le-bendig in unseren Sehnsüchten. Wir spüren es immer wieder, und immer wieder erle-ben Menschen so etwas wie Gnade. All das schenkt schon der kosmische Christus, oder sagen wir besser: der eine Christus im Rahmen seines geschöpflichen Wirkens. Aber die beschriebene Verdunkelungstendenz ist genauso Realität. Natürlich hängt sie mit dem zusammen, was die Bibel Sünde nennt: der aus mangelndem Gottvertrauen und aus Angst geborenen Illusion, dass wir uns unsere Würde und unser Glück selbst schaffen müssen, statt es uns schenken zu lassen. Der Macht unseres Egos mit all sei-nen unheilvollen Folgen. Aber die Dunkelheit ist nicht nur ein menschliches Phäno-men. Sie ist auch Ausdruck der Tatsache, dass die Schöpfung noch auf dem Weg ist.
Ich komme nun zum menschgewordenen Christus, auf den der Prolog zweifelsohne zuläuft. Vers 14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“
Das Wort, der „kosmische Christus“ wird Mensch. Anders formuliert: Ein konkreter geschichtlicher Mensch, Jesus von Nazareth, ist zum Wohnort des lebendigen Gottes geworden. Durch ihn kann Gott erkannt werden, und an ihm sehen wir, wie vom Lo-gos erleuchtetes und verwandeltes Menschsein aussieht. Hier ist der Mensch, der völlig eins mit dem in ihm wohnenden Christus ist, so dass er sich selbst, die Menschen und die Welt in der Kraft der göttlichen Liebe lieben kann. Er ist so sehr eins mit ihm, dass christlicher Glaube von der Menschwerdung des Logos spricht.
Mit welchen Kategorien beschreiben wir dieses Ereignis? Wenn ich die vertikale Ka-tegorie nehme, kann ich sagen: Gott kam von oben oder von außen in die menschliche Wirklichkeit hinein. Dann betone ich das Neue, das Einzigartige, das Wunder der Menschwerdung. Ich kann, wenn ich den kosmischen Christus als immer schon in der Schöpfung wirkenden Gott begreife, Jesus aber auch auf der horizontalen Ebene be-greifen. Dann kann ich sagen: Die schon immer in allen Menschen vorhandene Prä-senz des kosmischen Christus hat in Jesus von Nazareth ihre Fülle, ihre Erfüllung, ih-ren Durchbruch erlangt. Man könnte dann im strengen Sinn von einem emergenten Ereignis sprechen. Beide Deutungen müssen einander nicht widersprechen. Aber m.E. hat man Jesus Christus oft zu einseitig als radikalen Einbruch von oben verstanden, dass man fast den Eindruck gewinnen musste, vorher war die Welt gottlos. Wenn man dagegen Jesus Christus im Sinne des Johannesevangeliums auch auf der horizontalen Ebene verortet, dann können die in dieser Welt unbestritten immer schon gemachten Gotteserfahrungen und die durch Jesus Christus eröffnete Gotteserfahrung in ein sich ergänzendes, bereicherndes, aber auch kritisches Gespräch gebracht werden.
Wie beschreibt nun das Johannesevangelium selbst auf der Erzählebene das Verhältnis von inkarniertem Christus und dem Christus, der schon immer überall präsent ist und wirkt? Ich will das nur an einem Bespiel verdeutlichen. Es gäbe davon viele.
Im Evangelium werden immer wieder menschliche Grundsehnsüchte aufgenommen und existenziell vertieft. Beispiel: Durst. Alle Menschen haben Durst. Aber sie haben nicht nur Durst nach Wasser. Sie haben einen inneren Lebensdurst, einen Durst nach Sinn und Lebensfülle. Im Gespräch Jesu mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen (Joh 4) wird dieses Thema vertieft. Jesus und diese Frau kommen über das Wasser ins Ge-spräch. Jesus sagt provozierend: Er hätte da ein ganz besonderes Wasser zu geben, nämlich lebendiges Wasser. Die Frau findet das ein wenig lächerlich, denn er hat nichts, womit er schöpfen kann, und doch will er ihr Aqua Minerale Frizzante reichen. Aber Jesus setzt noch eins drauf und sagt: Das Wasser, das ich dir geben könnte, löscht den Durst endgültig. Damit meint er natürlich den inneren Lebensdurst, aber das ver-steht seine Gesprächspartnerin nicht wirklich. Ist die seelsorgerliche Intervention Jesus also gescheitert! Nicht ganz, denn nun spricht Jesus sie auf ein für sie anscheinend zentrales Lebensthema an: fünf Männer hat sie gehabt. Ich weiß nicht, woran der Au-tor hier genau gedacht hat, aber anscheinend gibt es für ihn irgendeinen Bezug von ihrem ganz persönlichen Lebensdurst zu diesen Beziehungen. Könnte es z.B. sein, dass sie ihren Lebensdurst in Beziehungen symbiotischer, also abhängig machender Natur gesucht hat? Will Jesus sie darauf hinweisen, dass man die letzte Erfüllung gera-de nicht im Außen finden kann, sondern nur in sich selbst? Dass man die Quelle, von der er explizit spricht, in sich selbst entdecken muss? Ist der inkarnierte Christus also vor allem der, der die Liebe Gottes so vermittelt, dass Menschen wieder an sie glauben können, dass sie sich in der Tiefe ihres Seins angenommen wissen? Geht es um die Quelle der Liebe, die in einem selbst entspringen muss?
Jetzt formuliere ich nochmal anders: Könnte es sein, dass der Christus in ihr, der diese Ursehnsucht nach Liebe und Licht in sie hineingelegt hat, der ihr vielleicht schon im-mer zugeflüstert hat, dass sie das, was sie sucht, in sich finden muss, jetzt von außen an sie herantritt, um sie zu ermutigen, den „Christus in sich“ zu entdecken? Bedeutet Wiedergeburt, Glaube, wie immer man es nennen will, nicht eigentlich, dass ich durch den menschgewordenen Christus wieder zu meinem mir schon immer von Gott gege-benen Sein zurückfinde? Werdet wie die Kinder! Findet als erwachsene und ernüchter-te Menschen wieder zurück zu einer zweiten, einer gereiften Naivität! Ist das die ganze Kunst, auch spiritueller Einfachheit?
Ich fasse meine Interpretation zusammen: Der Christus in mir, der in mir schon immer gegenwärtige und wirkende Christus und der Christus, der mir als menschgewordener Christus von außen begegnet, gehören zusammen. Der kosmische Christus trägt schon immer Jesus von Nazareth in sich. Auch „vor“ der Inkarnation, um in menschlich-zeitlichen Kategorien zu sprechen, hat er diesen Jesus im Sinn. Und Jesus von Naza-reth ist in seinem ganzen Sein auf diese göttliche Wirklichkeit hin ausgerichtet. Er hatte Vollmacht, so heißt es im Neuen Testament: Exousia! Wörtlich übersetzt bedeutet exousia „aus dem Sein heraus“. Jesus lebte aus dem Sein heraus, aus Gott heraus, so dass man ihn als den menschgewordenen Logos/Christus bezeichnen kann.
In spiritueller Hinsicht gibt es für mich nur einen Christus, und der kommt mir von außen entgegen, um mir seine Gegenwart in mir zu erschließen. Er offenbart mir, dass er schon immer in mir war, lebendig präsent ist in der Tiefe meines Seinsgrundes, dass er der Liebhaber meiner Seele ist. Er führt mich zu mir. Er weckt meine ursprüngliche Identität.
Im Johannesevangelium sagt Jesus: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch mich (Joh 14,6).“ Wenn ich diesen Vers im Lichte des Prologs lese, dann kann ich ebenso sagen: „Dort, wo sich mir ein echter Weg auftut, dort, wo ich beginne, wahrhaftig zu werden, dort, wo sich in mir etwas auftut, was Leben verheißt, dort war und ist der Christus schon immer am Wirken, auch in mir.“ Aber dieses allgemeine Wirken braucht die Begegnung mit dem inkar-nierten Christus, die sich auf sehr vielfältige Weise ereignen kann: durch Bibel und Verkündigung, durch Gespräche, durch alle möglichen Erfahrungen, aber eben immer so, dass mir der „konkrete“ Jesus Christus in seiner mir ganz persönlich geltenden Pro-existenz entgegenkommt. Bonhoeffer hat einmal gesagt: „Der Christus im Bruder ist stärker als der Christus in mir.“ Damit weist er darauf hin, dass ich das äußere Wort, das „verbum externum“, brauche, damit das innere zum Klingen kommen kann. Die-ses von außen kommende, mir zugesprochene Wort brauche ich deshalb so dringend, weil es in mir eben nicht nur Licht gibt, sondern viel Dunkelheit und viele Grautöne. Ich stehe in der dauernden Gefahr, Irrlichter für das wahre Licht zu halten, dem Ego Raum zu geben statt der Liebe und dem Vertrauen. Kurz: der Sünde Raum zu geben. Der von außen kommende Christus spricht mich auf die mir schon immer gegebene Schöpfungsgnade an. Er will mich zum Schwierigsten ermutigen, das es gibt: sich ein-fach nur lieben zu lassen, um dann im Lichte dieser Liebe die ganze Wirklichkeit neu zu sehen – und neu zu leben. Das ist keine Wellnessspiritualität: Es ist ein tägliches Sterben meines Ego, ein ständiges In-den-Tod-Geben meines oft gewalttätigen Ma-chertums, um stattdessen Gott und der Liebe Raum zu geben. Loslassen, Sich-Beschenken-Lassen, um zu einem freien und liebevollen Tun und Wirken zu finden.
II) Folgen für die Schöpfungsspiritualität
Wenn ich von diesem theologischen Ansatz Folgen ziehe für die Schöpfungsspirituali-tät, dann könnte das folgendermaßen aussehen:
1) Der kosmische Christus wirkt in der Schöpfung. Die Welt ist nicht gottlos. Er ist das Licht und das Leben in allem. Er ist aber nicht mit der Natur identisch. Er ist in der Schöpfung der Schöpfung gegenüber und hat auf den unterschied-lichsten Ebenen nur ein Interesse: die Natur und die Menschen zum wahren Leben zu locken, zu einem Leben in der Liebe. Die Natur als Schöpfung kann mir durch achtsame Wahrnehmung zu einem Buch werden, in dem ich dieses Wirken Gottes und Gott erkennen kann. Sie kann mich zum Staunen darüber führen, dass etwas ist und eben nicht nichts. Aber die Natur ist nicht einfach vollendete Schöpfung. Sie ist Schöpfung im Prozess. Es gibt in ihr viel, was noch nicht so ist, wie es sein soll. Survival of the fittest, Fressen und Gefres-senwerden, Leid, Tod und Geschrei. Die Betrachtung der Natur als solcher kann mich auch zum Nihilisten werden lassen. Es bedarf des rechten Blicks und der Kraft der Unterscheidung. Deshalb ist es nötig, am menschgeworde-nen Christus zu erkennen, was von ihm kommt und was in die Kategorie der Verdunklung und Dunkelheit gehört. Kurz: Es bedarf einer Auslegung. Es be-darf der Hermeneutik. Es ist deshalb wichtig mit Menschen, die sich auf Schöpfungsspiritualität einlassen und in diesem Bereich Erfahrungen machen, diese Erfahrungen im Lichte des Evangeliums zu reflektieren. „In deinem Licht sehen wir das Licht (Ps 36,10)“
Dass eine Sicht auf die Natur, die in allem Gott erkennt, dafür öffnet, dass alle Lebewesen eine eigene Würde haben und deshalb nicht einfach nur menschli-che Verfügungsmasse sind, erwähne ich jetzt nur, obwohl es angesichts der ökologischen Krise ein großes Thema ist.
2) Menschen wollen wieder zu sich selbst finden, auch in der Natur. Dazu helfen verschiedenste Zugangsweisen: Meditation, therapeutische Elemente, Pilgern in seinen unterschiedlichen Variationen, Wahrnehmung meiner Selbst durch Achtsamkeitsübungen, Wahrnehmung meiner selbst im Spiegel der Natur, Vi-sion quest usw. usf. Im Sinne des Johannesevangeliums könnte ich sagen: Al-les, was mir hilft, wieder in Kontakt mit mir zu kommen, was mich das Leben um mich herum und in mir neu entdecken lässt, ist zu bejahen und zu würdi-gen. Aber christliche Naturspiritualität wird, wo es stimmig ist und passt, den Ruf zu vertiefter Lebendigkeit immer auch auf den menschgewordenen Chris-tus beziehen, als den, in dessen Liebe ich die tiefste Erfüllung meiner Identität finden kann.
3) Der kosmische Christus wirkt nicht nur in der Kirche, das wäre ein Wider-spruch in sich selbst. Ich kann ihn überall entdecken, interreligiös und interkul-turell. Das öffnet mich, macht mich weit. Aber es macht mich nicht unkritisch. Denn wenn ich davon ausgehe, und das tue ich als Christ, dass der kosmische Christus und Jesus von Nazareth in einer für mich nie ganz zu verstehenden Ganzheit und Einheit zusammengehören, ja der eine Christus sind, dann werde ich manchem, auch wenn es sich noch so religiös oder zukunftsträchtig gibt, auch widersprechen. Das Kriterium ist dabei nicht, ob jemand Jesus im Munde führt, das Kriterium ist, ob etwas im Geist echter Liebe geschieht, was jetzt na-türlich inhaltlich differenziert und entfaltet werden müsste. Es geht dabei nicht um letzte Urteile über Menschen, das steht keinem zu. Es geht immer um das konkrete Verhalten und seine Wirkungen. Kurz: Prüfet alles, und behaltet das Gute
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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