Liebe Gemeinde!
Weihnachten ist das Fest der Sehnsucht. In der dunkelsten Jahreszeit sehnen wir uns nach Licht. Nach dem Licht und der Wärme der Sonne, ja, aber auch nach innerem Licht. Wir sehnen uns nach Frieden. Wir sehnen uns nach einer Liebe, die es wert ist, so genannt zu werden. Wir sehnen uns nach Sinn, nach dem Gefühl: Das ist meine Aufgabe und Berufung, und wenn ich ihr folge, dann bin ich ganz bei mir, und gleichzeitig kommt dadurch etwas Schönes, Gutes und Helles in die Welt. Weihnachten, das Fest der Sehnsucht.
Ich glaube, dass diese Sehnsucht auch in den Menschen zuhause ist, die mit der Weihnachtsbotschaft nicht so viel anfangen können. Warum sonst schmücken auch eher säkular eingestellte Menschen ihre Häuser und Gärten mit unzähligen Lichtgirlanden? Und selbst diejenigen, die sich gegenüber Weihnachten, so gut es halt geht, verweigern, tun es nicht, weil sie keine Sehnsucht haben, sondern eher deshalb, weil sie einfach enttäuscht sind und nicht mehr glauben können, dass dieses oft restlos kommerzialisierte und verkitschte Weihnachten ihre Sehnsucht stillen kann.
Ganz viele moderne Lieder und Filmen sind von dieser Sehnsucht erfüllt, auch das Lied, das wir gerade gehört haben. Da heißt es: „Denn jeder Wunsch erfüllt dein Herz. Auch wenn’s noch so schwer ist. Weil der Wunsch es wert ist. Ja, jeder hat den Traum: Man wär irgendwann irgendwo anders. … Sind zum Freisein geboren. Spieln im Sonnenlicht. Und kein Traum geht verloren, bis einmal unser Tag anbricht.“
Teil I (Joh 1,1-13)
Woher kommt diese tiefe Sehnsucht? In den Versen aus dem Johannesevangelium, die ich eben gelesen habe, ist von einem Wort die Rede, das seinen Ursprung in Gott hat. Durch dieses Wort ist alles gemacht. Dieses Wort hat sozusagen der ganzen Schöpfung seinen Stempel aufgedrückt, sie durchdrungen. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.“ Was ist mit diesen so geheimnisvollen Worten gemeint? Vielleicht kann man es so umschreiben: Es gibt in unserer Welt ein Licht, und dieses Licht wohnt in der ganzen Schöpfung, auch in uns. Dieses göttliche Licht schafft Leben. Es schafft Leben, indem es uns Menschen eine bestimmte Wahrnehmung schenkt, einen bestimmten Blick auf uns selbst und die Wirklichkeit. Wenn wir die Wirklichkeit durch dieses Licht hindurch sehen, dann ist es in uns hell, dann erfüllt sich unsere Sehnsucht. Das Wesen dieses Lichtes ist Liebe und Kommunikation. Deshalb wird es auch „das Wort“ genannt. Es ist letztlich das Wort, durch das Gott liebevoll Du zu uns sagt. Es ist das göttliche Du selbst.
Ja, ich weiß, das klingt noch immer ein wenig philosophisch und kompliziert. Aber vielleicht ist es das gar nicht. Versuchen wir doch mal, uns an unsere Kindheit zu erinnern. Ich denke, da gab es bei jedem von uns Augenblicke, wo wir nicht viel nachgedacht, sondern einfach nur gelebt und uns des Lebens gefreut haben. Da war so eine Art Urvertrauen. Da war das Gefühl, es ist gut für mich gesorgt, und deshalb darf ich unbelastet das Leben genießen. Ich darf sein! Ich darf genießen. Ich darf spielen. Was hat uns da nicht alles mit Staunen erfüllt? Ich erinnere mich an meine zweijährige Tochter, die einen Vogel gesehen hat. War es das erste Mal? Es wirkte so. Jedenfalls war sie total erfüllt von diesem wunderbaren Lebewesen, das die Fähigkeit hatte, der Schwerkraft zu trotzen und sich in die Lüfte zu erheben. Sie hatte noch keinen Namen für dieses geheimnisvolle Wesen. Aber da war Licht und Leben in ihren Augen! Staunen darüber, dass sie da sein darf, und dass sie so etwas sehen darf. Vielleicht ist es genau das, was der Evangelist meint. Ganz tief in ihr war es licht, da war Bejahung und Geborgenheit, und deshalb konnte sie dankbar die Welt genießen. In diesem Moment war sie innerlich in Tuchfühlung zum göttlich-liebenden Du, dessen Stimme uns zuflüstert: Es ist gut, dass es dich gibt, ich liebe dich, du darfst sein und das Leben in Dankbarkeit empfangen und weitergeben.
Warum ist dieses Gefühl nicht unser Normalzustand geworden? Der Evangelist würde wohl sagen: Das Licht ist immer noch da, auch in dir und mir, aber wir nehmen es leider oft nicht mehr wahr. Unser Blick wurde oft dunkel und trübe. Wir haben vergessen oder verdrängt, wer wir eigentlich sind, nämlich einzigartige, von Gott geliebte und bejahte Wesen. Deshalb verfielen wir der irrigen Überzeugung, dass wir uns erst wertvoll machen müssen, durch Erfolg, Karriere, Ehre und Ansehen. Dabei ist uns doch alles schon geschenkt, und wir müssten es nur dankbar und vertrauensvoll annehmen. So trat an die Stelle der Fülle ein Leben aus dem Defizit. Wir jagen einem Schatz nach, den wir eigentlich schon besitzen. Die Sehnsucht ist der beste Beweis dafür, dass da noch immer Licht ist, aber statt es zu entdecken suchen wir es immer irgendwo anders. Wann werden wir endlich begreifen, wohin uns unsere Sehnsucht führen will?
Teil II (Joh 1,9-14)
„Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeboren Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“
Wir sahen! Was sahen wir? Herrlichkeit! Es ist uns etwas Großartiges aufgegangen! Etwas Einzigartiges! Wir waren hin und weg! Einfach geil, würden Jugendliche vielleicht sagen!
Lassen Sie mich Ihnen eine Fabel erzählen. Da war ein Löwenjunges, das seine Eltern verloren hatte. Aber es hatte Glück im Unglück. Es wurde von einer Schafsherde adoptiert. So lernte das Löwenjunge alsbald, wie man sich als Schaf benimmt. Es fraß Gras wie die Schafe. Es blökte wie die Schafe. Aber es war trotzdem ein sehr merkwürdiges Schaf, auch ein unglückliches Schaf, weil es immer spürte, dass da was nicht stimmt. Da war eine Sehnsucht in ihm, die es nicht so recht deuten konnte. Irgendwann traf es dann, als es sich verlaufen hatte, auf einen Löwen. Voller Angst versuchte es zu fliehen, doch der Löwe stellte sich ihm in den Weg, und sagte: Was ist denn mit dir los? Warum läufst du weg? Weißt du nicht, dass du ein Löwe bist? Das Schaf hielt dies für einen schlechten Scherz. Doch dann kamen die beiden zu einem Wasser. Da sagte der Löwe: Schau doch mal hinein. Das Schaf tat es, erschrak und brüllte das erste Mal in seinem Leben wie ein Löwe.
Was bringt uns zum Brüllen? Was hilft uns zu entdecken, wer wir eigentlich sind? Es ist das göttliche Wort, das göttliche Du, das schon immer in uns verborgen ist und nun in Jesus Mensch wurde. Durch dieses menschgewordene Wort, durch diese bedingungslose Liebe, lässt Gott uns spüren: Du bist mein unendlich geliebter Sohn, meine unendlich geliebte Tochter. Du bist mir aus dem Gesicht geschnitten. Lass dir das gesagt sein. Vertraue darauf. Du musst nicht erst etwas aus dir machen, um etwas zu sein. Wenn du aus der Kraft meines Ja zu dir lebst, dann wird dir ein neuer Blick auf alles geschenkt, dann kannst du im Licht meiner Liebe lieben, dich selbst, die Menschen, diese Welt. Wenn du Herrlichkeit in dir gefunden hast, dann wirst du überall Herrlichkeit entdecken. Dann kannst du mit innerer Kraft leben und dich engagieren, nicht aus dem Defizit heraus, sondern aus der Fülle.
Das ist die Herrlichkeit, die Menschen in Jesus entdeckten. Eine göttliche Liebe, die Mensch geworden war, die mich befähigen will, meine wahre Identität, meine Würde zu entdecken. Diese göttliche Liebe ist so groß, dass die keinen Weg und keine Mühe gescheut hat, um in unserer Wirklichkeit anzukommen, deren größtes und liebstes Projekt wir Menschen sind. Anscheinend brauchen wir dieses konkrete, dieses uns von außen begegnende und zugesprochene Wort, damit wir spüren, wer wir sind.
Das klingt alles sehr einfach, vielleicht zu einfach, aber oft ist das Einfachste das Schwierigste. Denn um uns so neu zu begreifen, muss fast alles auf den Kopf gestellt werden, was wir bislang geglaubt haben und was in unserer Welt lautstark proklamiert wird. Vor allem müssen wir immer mehr dieses Ego abstreifen, mit dem wir oft sehr eigensinnig und rücksichtslos meinen, etwas aus uns machen und uns durchsetzen zu müssen. Wir müssen lernen, dass am Anfang immer das Geschenk steht, die Gnade, das Empfangen. Wenn uns Gott oft an schmerhafte Grenzen führt, wo wir nicht mehr weiterkommen, dann nicht, um uns zu quälen, sondern um uns für das aufzubrechen, was er uns an Liebe schenken will. Ermutigung zum Umgang mit Sackgassen. … All das ist ein lebenslanger Lernprozess. Aber Gott begleitet uns in Empathie und Geduld, damit wir es immer besser lernen, wie der junge Löwe zu brüllen.
Ich habe in dieser Predigt bewusst nicht von all dem gesprochen, das uns vielleicht betrübt: von einer Welt, die sich im Chaos befindet, in unzähligen Kriegen und Konflikten, von dem Wahnsinn, der uns umgibt und uns erschaudern lässt. Habe ich deshalb eine Nabelschau betrieben, wo es nur um mich geht? Ich hoffe nicht. Denn Gott will nichts sehnsüchtiger, als Licht und Herrlichkeit in diese Welt zu bringen. Aber solches Engagement erfordert viel Liebe und kostet viel Mut und Widerstandskraft, auch Leidensbereitschaft. All das haben wir nur, wenn wir zuerst gut für uns sorgen: Nur wer für sich brüllt, kann auch für andere brüllen. Nur wer das göttliche Ja geschmeckt hat, kann es in die Welt hineintragen. Deshalb lassen sie uns an Weihnachten das Ja und das Licht feiern, das göttliche Du, das mir in Jesus leuchtet. Daraus fließt die Kraft der Veränderung, die unsere Welt so dringend braucht.
Und der Friede Gottes, der größer ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen
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