Jesus: ein Superseelsorger? Predigt zu Hebräer 4, 14ff

Liebe Gemeinde!

Wenn wir bei einem Menschen Hilfe suchen, dann erwarten wir uns meist zweierlei! Wir erwarten uns Einfühlungsvermögen und Verständnis. Keiner hat Lust, sich kluge Allerweltsratschläge anzuhören, die mit seiner konkreten Situation nichts zu tun haben. Wir wünschen uns aber auch, dass der andere uns etwas geben kann, das uns weiterhilft: vielleicht Lebenserfahrung, vielleicht auch so etwas wie menschliche oder geistliche Weisheit. Er darf uns schon Vorschläge machen, aber sie müssen in unsere Situation hineinpassen; und vor allem darf das alles nicht arrogant von oben herab kommen. Beides auf den Punkt gebracht: Wir sehnen uns nach Einfühlungsvermögen und nach der Ermutigung, neue Wege zu beschreiten, sodass wir fähig werden, einen ersten Schritt in eine verheißungsvolle Richtung zu gehen.

Wenn ich aus diesem Blickwinkel unseren heutigen Predigttext betrachte, dann könnte ich sagen: Gott hat unsere Bedürfnisse und unsere Not gesehen und uns einen Superseelsorger an die Seite gestellt, und dieser Superseelsorger heißt Jesus Christus.
Ich weiß schon, in unserem Text ist nicht direkt von Seelsorge und Psychologie die Rede, aber wenn uns Jesus Christus als unser „Hoherpriester“ vor Augen geführt wird, dann geht es vielleicht doch um etwas Ähnliches. Wer war denn im Judentum ein Hoherpriester? Ein Hoherpriester war einer, der aus der Mitte Israels kam, sodass das Volk sagen konnte, das ist „einer von uns“, gleichzeitig stand dieser eine aber auch in einer besonderen Verbindung zu Gott. Er war von Gott dazu erwählt, die heilenden göttlichen Kräfte zu den Menschen zu bringen. Eine Art Medium, eine Brücke zwischen Gott und Mensch. Er hatte sozusagen an beiden Welten Anteil und konnte deshalb vermitteln. Genau, aber noch in zugespitzter Weise, zeichnet Jesus Christus aus. Er war und ist ein wirklicher Mensch, einer von uns, und deshalb kann uns auch verstehen. Er hat aber auch einen heißen Draht zu Gott, ja Gott selbst wohnt in ihm, und deshalb kann Gott durch ihn zu uns hin fließen.

Jesus, Mensch und Gott in einer Person! Ich weiß, dass ist schwer zu fassen und zu begreifen. Aber vielleicht kann uns gerade unser heutiger Predigttext an dieses Ge-heimnis heranführen, indem er es uns am Beispiel der Versuchung hilft, die menschliche und die göttliche Seite Jesu in den Blick zu nehmen.

Der Autor des Hebräerbriefes sagt: Jesus war so sehr Mensch, dass er sogar versucht wurde, so wie wir. Das ist eine gewaltige Aussage, die überhaupt nicht zu den Bil-dern passt, die sich viele fromme Menschen von Jesus gemacht haben. Haben Sie mal überlegt, was das heißt, wenn man es wirklich ernstnimmt? Es heißt, dass Jesus die Sünde gereizt hat. Denn hätte sie ihn nicht gereizt, dann wäre es keine Versuchung gewesen, dann wäre die ganze Versuchungsgeschichte, die wir als Evangelium gehört haben, nichts anderes als ein unwürdiges Schauspiel, schon fast ein Schmierentheater. Wie kann man sich diese Versuchungen Jesu vorstellen? Nun ja, es könnte tatsächlich sein, dass Jesus manchmal so vom Zorn erfasst wurde, dass er für einen Moment in der Gefahr stand, sich davon mitreißen zu lassen und die Liebe zu uns Menschen aufzugeben. Gerade weil er das göttliche Licht in sich hatte, muss ihn all das Dunkel, das ihm in dieser Welt begegnet, ja umso mehr entsetzt haben. Genauso gut könnte man sich vorstellen, dass die Erfolglosigkeit seines Wirkens ihm so zusetzte, dass er in der Versuchung stand endgültig aufzugeben. Aus all diesen Gründen könnte es auch sein, dass Jesus manchmal von einem ganz normalen Leben geträumt hat, von einem angesehenen Leben an der Seite einer Frau, mit Kindern, ohne die schwierigen Aufgaben, denen er dauernd ausgesetzt war und die ihn schließlich auf den Weg nach Golgatha brachten. Ich weiß, dass solche Gedanken für manche vielleicht eine Provokation sind, und natürlich kann auch ich nicht ins Innere Jesu blicken. Dennoch: Muss man nicht in diese Richtung denken, wenn man die Worte unseres Predigttextes ernst nimmt?

Freilich, es steht hier auch das andere: Er war versucht wie wir, doch ohne Sünde! So sehr die Versuchung Jesus also auch gereizt haben mag, Jesus hat ihr widerstanden. Es gab „etwas“ in Jesu, das stärker war als alle Versuchung. Dieses „etwas“ war Gottes Verbindung zu ihm und seine Verbindung zu Gott. Gott in Jesus! Aber auch Jesus musste immer wieder zu dieser Quelle zurück. Es war auch für ihn ein innerer Kampf, ein Weg, eine Anstrengung. Denken Sie nur an Gethsemane!

Wenn das stimmt, dann kennt Jesus alle Versuchungen, die mir das Leben oft so schwer machen, von innen her, und er versteht, dass es alles andere als leicht ist, ihnen zu widerstehen. Deshalb darf und kann ich vor ihm radikal ehrlich sein.

Anthony de Mello, ein bekannter geistlicher Schriftsteller, berichtet einmal von einer Erfahrung, die gut hierher passt. Er sagt, dass er lange Probleme hatte, Jesus in die Augen zu sehen: „Ich redete zwar, blickte aber weg, wenn ich spürte, dass Jesus mich ansah. Immer sah ich weg, und ich wusste warum. Ich hatte Angst dort einen Vor-wurf zu finden wegen irgendeiner noch nicht bereuten Sünde. Ich dachte, ich würde auf eine Forderung stoßen: irgendetwas wollte er wohl von mir. Eines Tages fasste ich Mut und blickte ihn an! Da war kein Vorwurf. Da war keine Forderung. Die Au-gen sagten nur: Ich liebe dich. Ich blickte lange in diese Augen, forschend blickte ich in sie hinein, doch die einzige Botschaft lautete: Ich liebe dich. Und ich ging hinaus, und wie Petrus weinte ich.“ Ist das nicht wunderbar? Dass ich vor jemand stehen darf, der mich nicht verurteilt, der alles verstehen kann, weil er alles durchlebt und durchlitten hat.

Das größte Problem im Umgang mit unseren schwierigen und manchmal auch dunklen Seiten besteht darin, dass wir uns dafür schämen und deshalb auch nicht den Mut haben, sie anzuschauen. Das Wahrnehmen, das Anschauen, das Bejahen ist aber die Voraussetzung für jede Form von Heilung und Transformation. Anonyme Alkoholiker! Der nicht verurteilende Blick Jesu ist eine wunderbare Voraussetzung dafür, dass ich den Mut bekomme, auch das Schwierige und Dunkle in meinem Leben an-zuschauen und mich ihm zu stellen. Vielleicht verurteilen mich Menschen. Sollen sie! Gott verurteilt mich nicht!

Dort, wo das passiert, wo ich meine Schwierigkeiten und Versuchungen nicht mehr verschweigen muss und sie vor und mit Jesus anschauen kann, geschieht oft etwas ganz Erstaunliches: Es kommen mir plötzlich wie aus heiterem Himmel Gedanken und Ideen, wie ich besser damit umgehen kann. Solange ich die Dinge verdränge und mich dagegen wehre, gebe ich ihnen eine gewaltige Macht. Sie scheinen riesengroß und unüberwindbar. Wenn ich sie aber angstfrei ankucken kann, dann wird mein Blick gelassener, realistischer, und plötzlich sehe ich Möglichkeiten der Überwin-dung. Scheinriese! (Michael Ende)

Dort, wo ich den Mut habe, Dinge anzuschauen, kann es auch passieren, dass ich plötzlich merke: In jedem Dunkel steckt auch etwas Lichtes. Vielleicht neige ich zum Zorn, ja, aber vielleicht ist das auch deshalb so, weil ich eine tiefe Leidenschaft für Gerechtigkeit in mir habe. Das heißt, dass meine Stärke etwas mit meiner Schwäche zu tun hat, und dass beides einfach nur ins rechte Gleichgewicht gebracht werden muss. Dann könnte ich beim nächsten Zornesanfall z.B. sagen: Ja, Gott, du verstehst, dass ich jetzt auf diesen Menschen wütend bin, denn das war nicht recht, aber habe ich ein Recht ihn dafür zu verurteilen? Erstens verhalte ich mich ja selbst oft ungerecht und zweitens würde ich durch einen Zornesausbruch vermutlich alles nur verschlimmern. Deshalb: dreimal durchatmen, und dann agieren.

So ist uns mit Jesus als unserem göttlichen Hohenpriester beides geschenkt: Verste-hen, Liebe und Annahme, aber auch das göttliche Licht und die göttliche Energie, die uns helfen kann, unsere Probleme und Schwierigkeiten mutig und zuversichtlich anzugehen. Deshalb heißt es in unserem Text: Darum lasst uns hinzutreten mit Zuver-sicht zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

Eine letzte Anmerkung: Jesus ist der beste Seelsorger, den man sich vorstellen kann. Das stimmt. Aber es stimmt auch, dass dieser Jesus uns durch Menschen be-gegnen kann. Deshalb: Spielen Sie das eine nicht gegen das andere aus. Manchmal ist es auch dran, dass wir bei Menschen Hilfe suchen, bei Menschen, die wie Jesus aus der Quelle schöpfen und gerade deshalb empathische und menschliche Menschen sind, die uns helfen können.

Amen
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