Was ist Wahrheit? - Jesus und Pilatus (Joh 18,28-19,5)

Was ist Wahrheit? Eine anspruchsvolle und schwierige Frage, jedenfalls dann, wenn man nicht Donald Trump heißt. Mir fällt es jedenfalls oft leichter zu sagen, was Wahrheit nicht ist, als sie positiv in Worte zu fassen.

Ich bin sicher, dass jemand, der etwas sagt, das mit der Realität nicht übereinstimmt, lügt. Ich bin mir sicher, dass jemand, der gegen alle ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Untersuchungen den Klimawandel leugnet, die Wahrheit bekämpft, weil sie seinen Interessen widerstrebt. Ich bin mir sicher, dass jemand, der sich bewusst verstellt, um nicht anzuecken, ein Heuchler ist. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass ein Kind, dem andere sagen: „Dein Vater ist ein elender Säufer“, wenn es dies ent-schieden leugnet, zwar objektiv lügt, aber in dieser „Lüge“ mehr Wahrheit steckt als in vielen Richtigkeiten, denn niemand hat das Recht ein Kind auf diese Weise zu beschämen. Was also ist Wahrheit?

Ich denke, dass uns unser heutiger Predigttext bei der Beantwortung dieser Frage ein wenig weiterhelfen kann. Schließlich geht es hier ja um einen gerichtlichen Prozess, und ist nicht gerade das die Aufgabe eines Prozesses, die Wahrheit ans Licht zu brin-gen?

Angeklagt ist Jesus von Nazareth. Er soll nach dem Willen der jüdischen Tempelaristokratie zum Tod verurteilt werden. Ein Todesurteil zu fällen und zu vollstrecken war damals aber nur den Römern möglich, denn Juden hatten als ein von Rom besiegtes und unterjochtes Volk keine Kapitalgerichtsbarkeit. Deshalb wird Jesus dem römischen Statthalter Pontius Pilatus übergeben, und dabei ist eines von vornherein klar: Pilatus wird niemanden zum Tod verurteilen, wenn es nur um innerjüdische Streitigkeiten geht. Nur wenn es sich um einen politischen Fall handelt, nur wenn Jesus zu den Aufständischen gehören würde, die im Namen des Gottes Israels gegen die in ihren Augen heidnischen und gottlosen Römer kämpfen, fiele das in seinen Kompetenzbereich.
Wenn er Jesus deshalb fragt „Was hast du getan?“, dann weiß Jesus weiß sofort, worauf er hinaus will. Deshalb sagt Jesus pointiert: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre ich ein Aufständischer, dann hätten meine Anhänger schon längst zum Schwert gegriffen.“ „Aha“, sagt Pilatus, „du bist also ein Herrscher, aber kein politischer.“ „Interessant“, so wird er sich gedacht haben, „was diesen Juden nicht alles einfällt.“ Darauf sagt Jesus sinngemäß: „Mein Königsein besteht darin, die Wahrheit zu bezeugen – und wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“ Und nun kommt er, der berühmte achselzuckende Satz des Pilatus: „Was ist (schon) Wahrheit?“

Eines ist damit für ihn glasklar: Wenn das, was dieser Nazarener sagt, stimmt, dann mag er zwar ein wenig verrückt sein, aber des Todes schuldig ist er nicht. Das Einzige, was deshalb noch zu prüfen ist, ist, ob er die Wahrheit gesagt hat. Deshalb lässt er ihn foltern, denn das war damals die gängige und akzeptierte Methode der Wahrheitsfindung war. Aber die Folter führt zu keinem Geständnis.

Wenn das so ist, dann fragen Sie sich natürlich: Und warum hat er Jesus dann doch gekreuzigt? Der Autor unseres Textes hat darauf tatsächlich eine Antwort, aber diese Antwort steht nicht mehr in unserem Predigttext, sondern einige Verse später. Sie ist freilich so wichtig, dass ich sie nicht aussparen kann. In einer letzten Beratung über Jesus von Nazareth, sagen einige zu ihm: „Lässt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser.“ Mit anderen Worten: „Pilatus, willst du wirklich deine Karriere riskieren? Willst du, dass man dir nachsagt, du seist zu lasch? Selbst wenn dieser Jesus sein Königsein völlig unpolitisch versteht, man könnte es so verstehen und damit politische Unruhe erzeugen. Willst du das riskieren?“ Daraufhin setzte er sich auf den Richtstuhl und verurteilte Jesus zum Tod. Letztlich interessiert Pilatus also nicht die Wahrheit, nicht die Frage, ob dieser eine schuldig ist, letztlich interessiert ihn nur eines: Wie muss das Urteil ausfallen, wenn es mir dienen soll, meiner Karriere, meiner Macht, meinem Vorteil!

Ganz ehrlich: Wenn ich darüber nachdenke, dann spüre ich eine ziemliche Wut in mir aufsteigen. Denn ist es nicht gerade das, was wir im Moment in ganz vielen Ländern erleben: Dass die Wahrheit im Namen rein selbstsüchtiger Interessen brutal niederge-halten und unterdrückt wird. Gerichte werden mit denen besetzt, die einem gewogen sind oder ganz gleichgeschaltet. Gegen Menschen, die die eigene Macht bedrohen, werden absurde Anklagen aus dem Hut gezaubert, und die, die angesichts solchen Unrechts laut brüllen müssten, protestieren allenfalls zaghaft, weil sie auch wieder ihre Interessen haben. Es ist manchmal wirklich zum Heulen.

Aber was ist denn nun die Wahrheit? Positiv formuliert! Für welche Wahrheit steht Jesus ein, wenn er sagt: „Ich bin geboren, um die Wahrheit zu bezeugen.“

Ich verstehe es so, dass die Wahrheit, die Jesus verkörpert und bezeugt, ein anderes Wort für Liebe ist. Jesus lebt aus der tiefsten Überzeugung und Gewissheit, dass der Urgrund allen Seins Gott ist, und dieser Gott ist Liebe. Diese Liebe kann alles, aber sie kann nicht lieblos sein. Selbst wenn sie zornig ist und tobt, weil sie menschliche Lieblosigkeit, menschlichen Narzissmus kaum noch ertragen kann, hört sie nicht auf, die Sünder zu lieben und hofft auf deren Umkehr. In dieser Haltung, die keinen Menschen verurteilt, die aber auch nicht davor zurückschreckt Unrecht beim Namen zu nennen und es zu verurteilen, begegnet Jesus Menschen. Seine Botschaft ist ein einziger Lockruf: Lasst euch von Gott lieben, damit ihr fähig werdet, in der Kraft dieser Liebe euch selbst, andere Menschen und die Welt zu lieben. Entdeckt die heilsame Kraft der göttlichen Liebe, das Ja, die Zuwendung, und definiert euch von daher. Nicht das Gewinnen und das Haben, nicht die Macht acht euch mächtig. Wirkliche innere Stärke bekommt ihr nur durch diese Liebe. (…)

Es ist verrückt, aber genau diese so positive Botschaft hat ihn dahin gebracht, wo er jetzt steht. Anscheinend wollen Menschen immer etwas aus sich selbst machen. Es ist ihnen unerträglich zu hören: dass sie nichts machen müssen, außer sich lieben zu lassen. Sie verstehen nicht, das echtes kraftvolles und tätiges Leben, kreatives und lebendiges Wirken erst dort um sich greifen, wo das Tun aus dem Empfangen kommt. Womit wir wieder bei Pilatus wären. Aber trotz aller Erfolglosigkeit, trotz aller erlittenen Bosheit, bezeugt Jesus auch unter Leid und Schmerz immer noch diese Wahrheit. Sein Zeugnis für die Wahrheit erreicht gerade in dieser Situation eine unglaubliche Intensität und Tiefe. Er hört nämlich bis zum Ende nicht auf die zu lieben, die ihm all das antun, in der Hoffnung, dass sie vielleicht doch irgendwann die Waffen strecken und sich seiner Liebe ergeben.

Warum ist es so schwierig, Wahrheit klar zu definieren? Vielleicht einfach deshalb, weil Wahrheit eine Haltung ist, eine innere Einstellung, eine Zugangsweise zur Wirklichkeit und kein Sammelsurium von Inhalten und Sätzen. Der Mensch ist nach der Bibel ein Beziehungswesen. Er hat eine Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur ganzen Wirklichkeit, und in dem Maße, in dem er es lernt, diese Beziehungen im Lichte der göttlichen Liebe zu leben, ist er in Übereinstimmung, in Balance, ist er in der Wahrheit. Jesus sagt: Wer aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme. Aus der Wahrheit sein, ist etwas anderes, als die Wahrheit zu haben. Die Wahrheit Jesu kann man nicht haben, man kann sich nur von ihr ergreifen lassen, ihr folgen, sie tun.

Diese göttliche Liebe will nicht zwingen und beherrschen. Deshalb landet sie oft in den Folterkammern dieser Welt, wird auf Scheiterhaufen verbrannt, wird gekreuzigt, wird weggesperrt. Sie kommt so schwach und verletzlich daher, dass man sich über sie lustig machen kann. Aber sie ist die Saat der göttlichen Zukunft, die Kraft der Auferstehung, das neue Leben, das Gott uns schenken will. Ja, diese göttlichen Liebe weiß oft wenig. Sie hat keine fertigen Lösungen. Aber sie vertraut darauf, dass in liebevollen Prozess Gott sich uns schenken wird.

Was kann ich denn schon einem Menschen geben? Nichts! Aber ich kann ihn berühren, ihn zu verstehen suchen, mit allen Mängeln und Halbheiten. Ich kann Du sagen, und ich kann dann wieder Ich sagen, und darauf vertrauen, dass Gott uns kleine Schritte näher zur Wahrheit seines und meines Lebens führt.
Was habe ich denn für Lösungen für all die schwierigen Probleme in unserer Zeit? Keine. Aber ich habe die Zuversicht, dass wenn wir gemeinsam und ehrlich uns aussprechen und nach Lösungen suchen, uns auch Lösungen geschenkt werden.
Sie merken es: Diese Welt der göttlichen Wahrheitsliebe ist tatsächlich eine andere Welt als die, über die wir täglich in unseren Zeitungen lesen. Es ist keine Welt der Rechthaberei, des Fundamentalismus, der Verstellung. Es ist die Welt Jesu, in der er als König regiert. Jesus hat uns kein Navy hinterlassen, das all unsere Fragen beantwortet. Auch die Bibel ist kein solches Navy. Aber er hat uns das Versprechen gegeben, dass wir zum Leben finden, wenn wir der Wahrheit der göttlichen Liebe vertrauen, wenn wir uns ihm anvertrauen, durch den diese verletzliche, oft unwissende, aber starke Liebe uns berühren und leiten will.

Amen

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