Die Schechina als jüdische Annäherung an das, was Christen als Christus- oder Geisterfahrung bezeichnen würden
Einleitung:
Für Christen ist der Heilige Geist ein entscheidendes Thema. Wir begreifen heute immer mehr, dass ein geistvergessenes und verkopftes Christentum der spirituellen und ökologischen Sehnsucht unserer Zeit nicht gerecht werden kann. Es kommt darauf an, die pneumatologische Dimension unseres Glaubens neu zu entdecken und zu vertiefen. Dieser Prozess kann uns auch helfen, die ursprüngliche Botschaft des Neuen Testaments wieder tiefer zu verstehen. Jesus selbst kann ohne das Wirken des Heiligen Geistes nicht richtig verstanden werden, und in den ersten christlichen Gemeinden und deren Theologien spielte der Heilige Geist eine überaus prominente Rolle (Paulus, Lukas, Johannes).
Wenn ich in sehr einfachen Worten erklären will, wer oder was der Heilige Geist ist, dann würde ich sagen: Christen glauben an einen den Menschen suchenden und liebenden Gott. Sie glauben, dass dieser Gott aufgrund seiner leidenschaftlichen Liebe nicht bei sich geblieben ist, sondern in Jesus von Nazareth zu uns gekommen, um uns zu erlösen. Diese Liebe erreicht ihr Ziel aber erst dort, wo Christus durch den Geist in unser Herz hineinkommt und uns in diesen Transformationsprozess hineinnimmt, der letztlich auf eine Erlösung der ganzen Schöpfung zielt. Der Heilige Geist macht Gottes Liebe konkret erfahrbar, übersetzt sie in unser persönliche, gemeinschaftliche uns gesellschaftliche Wirklichkeit hinein. Deshalb hat es auch eine gewisse Logik, dass er in den dogmatischen Entwicklungen der Alten Kirche mit Christus zusammen als dritte göttliche Person klar auf der göttlichen Seite verortet wurde: Er ist der Geist, der Herr ist und lebendig macht (Nizänum). Abgesehen von der christologisch-soteriologischen Dimension merken wir natürlich immer mehr, dass der Heilige Geist auch in der Schöpfungstheologie zentrale Bedeutung bekommen muss.
Nun ist das Christentum nicht vom Himmel gefallen. Es hat mit dem heutigen Judentum eine gemeinsame Wurzel, nämlich das alttestamentlich geprägte antike Judentum, das wir heute meist als Frühjudentum bezeichnen. Heutiges Christentum und heutiges Judentum sind Schwesterreligionen, die sich in den ersten Jahrhunderten in einem überaus komplexen Prozess entwickelt und schließlich voneinander getrennt haben. Es ist deshalb falsch zu sagen, das Judentum sei die Wurzel christlichen Glaubens. Das, was wir heute unter Judentum verstehen, hat sich erst in den letzten 2000 Jahren entwickelt, nicht unwesentlich in der Auseinandersetzung mit dem Christentum. Genauso wie sich das Christentum als eigene Religion erst in der Auseinandersetzung mit dem Judentum entwickelt hat.
Es ist deshalb eine wichtige Frage, wie unsere Schwesterreligion mit den Themen umgeht, die auch uns beschäftigen. In gewisser Weise sind uns durch das gemeinsame Erbe des Alten Testaments auch ähnliche Fragen mit auf den Weg gegeben. Wahrzunehmen, wie wir beide auf diese Fragen antworten, kann uns gegenseitig befruchten und bereichern. Wir werden aber auch deutlicher sehen, was unsere eigentliche Identität als Christen oder Juden ausmacht.
Was ist nun bezogen auf das Thema des Heiligen Geistes die gemeinsame Ausgangsfrage?
Die gemeinsame, uns durch die Hebräische Bibel gegebene Ausgangsfrage heißt: Wie ist es möglich, dass der unendlich große, von uns Menschen nicht begreifbare und alles umfassende Gott, der Schöpfer des Universums, diesen riesigen Abstand überwinden kann, um bei uns kleinen und begrenzten Menschen anzukommen. Eines ist bereits im Alten Testament klar: Gott ist in leidenschaftlicher Liebe zu Israel und seinen Menschen entbrannt. Er will uns erreichen und uns erlösen. Die Frage ist: Wie kann das gehen? In theologischer Diktion: Wie ist das Verhältnis von göttlicher Transzendenz und Immanenz zu bestimmen?
Die christliche Antwort heißt: Gott kommt durch Christus im Geist zu uns.
Juden antworten auf diese Frage nicht in erster Linie mit dem Theologumenon des Heiligen Geistes, dies spielt eher eine untergeordnete Rolle, sondern mit unterschiedlichen Begriffen, Vorstellungen und Bildern. Die Schechina-Vorstellung, die manchmal auch an die Stelle des Heiligen Geistes tritt, hat dabei eine durchaus prominente Bedeutung. Deshalb werde ich sie, um das Thema zu begrenzen, in die Mitte rücken und darlegen, wie sie sich im Judentum entwickelt hat. Ich tue das, weil ich glaube, dass interkulturelles und interreligiöses Verstehen sich nicht auf Begriffe beschränken darf, auch wenn das eine Lieblingsbeschäftigung von Theologen ist, sondern nach der Sache fragen muss. In diesem Fall: Was entspricht im Judentum am ehesten dem, wovon wir reden, wenn wir vom Heiligen Geist sprechen.
Drei Teile hat mein Vortrag. Ich werde ihnen zuerst die Schechinavorstellung nahebringen, wie sie im rabbinischen Judentum im 3-5./6. Jahrhundert entwickelt wurde. Dies ist die Basis, weil hier auch die Grundlage des heute normativen Judentums geschaffen wurde. In einem zweiten Teil gehe ich auf die Schechinavorstellung in der jüdischen Mystik des Mittelalters ein, bevor ich in einem dritten Teil einen ganz kurzen Ausflug in die Welt des Chassidismus mache. Zum Schluss dann ein kleines Fazit.
I Rabbinische Schechinavorstellungen
Der Terminus Schechina ist ein Verbalsubstantiv, das man am besten mit ‚Einwohnung‘ oder ‚Präsenz‘ Gottes übersetzen kann. Gemeint ist hier in erster Linie die Gegenwart Gottes unter seinem Volk Israel. Das Wort „Schechina“ begegnet erst im rabbinischen Judentum, ab dem 2./3. Jahrhundert, hat aber seinen Ursprung in den alttestamentlichen Schriften. Dort taucht noch nicht das Wort selbst auf, aber es ist davon die Rede, dass Gott unter seinem Volk wohnt (hebr. schachan), vor allem, dass er im Zeltheiligtum der Wüste bzw. dann im späteren Tempel wohnt. Dies wäre ein eigenes großes Thema, Mir genügt für unseren Zusammenhang zur Illustration der Vorgeschichte eine Belegstelle, die aber durchaus zentral ist. Es ist ein priesterschriftlicher Text, der in Exodus 29,43-46 steht. Dort heißt es:
(43) And there I will meet with the children of Israel, and the tabernacle shall be sanctified by my glory. (49) And I will sanctify the tabernacle of the congregation, and the altar: I will sanctify also both Aaron and his sons, to minister to me in the priest’s office. (45) And I will dwell among the children of Israel, and will be their God. 46 And they shall know that I am the LORD their God, that brought them forth out of the land of Egypt, that I may dwell among them: I am the LORD their God.
Dieser Text ist zentral für die Theologie der Priesterschrift, denn in der Priesterschrift besteht das Ziel der göttlichen Heilsgeschichte in der Begegnung Gottes mit seinem Volk. Diese Begegnung gelangt dort zu ihrem Ziel, wo Gott im Tempel selbst Wohnung nimmt. Diese konkrete Form der göttlichen Gegenwart wird im AT oft mit dem Wort göttliche Herrlichkeit (hebr. kavod) beschrieben. Letztlich ist diese göttliche Herrlichkeit genau das, was die Rabbiner dann später mit Schechina bezeichnen. Wichtig ist für die Priesterschrift, dass diese göttliche Gegenwart reines Geschenk ist. Sie ist Ausdruck der gnadenhaft gewährten Erwählung Israels (Janowski, Gottes Gegenwart 138ff). In der Krise des Exils war es der Priesterschrift wichtig zu betonen, dass der Bund Gottes mit Israel reine Gnade ist und er deshalb auch durch den Ungehorsam Israels nicht aufgehoben werden kann. Deutlich ist auch: Die Herrlichkeit Gottes ist eine Erscheinungsweise Gottes, keine Hypostase, kein zweiter Gott, so sehr sie eine innergöttliche ‚Differenz‘ bzw. Spannung zum Ausdruck bringt, eben die von Transzendenz und Immanenz.
Wenn ich nun auf die rabbinischen Schechinavorstellungen eingehe, dann ist wichtig zu bedenken, dass für das Judentum Dogmatik oder Theologie nicht so zentral sind wie im Christentum. Es gibt Versuche, die in diese Richtung gehen, vor allem heute, aber tendenziell ist das Judentum mehr Orthopraxie als Orthodoxie. Man wird deshalb aus den jüdischen Schechinavorstellungen nur schwer eine homogene Lehre machen können, dennoch gibt es gewisse Grundzüge. So betonen die meisten Schechinavorstellungen Gottes Nähe zum Menschen, seine Kondeszendenz. Ich will dies an drei wichtigen Themenkomplexen illustrieren:
1) Die Schechina ist dort, wo man die Tora studiert
Der jüdische Tempel wurde im Jahr 70 n. Chr. von den Römern zerstört. Damit entstand die theologisch bedrängende Frage, ob mit dem Tempel auch die Gegenwart Gottes verschwunden ist, ob also Gott sein Volk verlassen hat? Eine entscheidende Antwort auf diese Frage, die die Rabbinen gegeben haben, heißt: Gott hat uns die Tora gegeben. In ihr wohnt Gott. Er wohnt nicht nur im Tempel. Deshalb: Wenn uns auch der Tempel genommen ist, die Tora als Ort der Gottesgegenwart ist uns geblieben, und dieses Heiligtum der Tora ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern kann überall mit hingenommen werden. Aus einem fixen Heiligtum, das an ein bestimmtes Land gebunden ist, ist in gewisser Weise ein „portatives Heiligtum“ geworden (Heinrich Heine).
In einem Mischnatraktat – die Mischna ist das Schrift gewordene Fundament des in nachchristlicher Zeit entstandenen traditionellen Judentums – heißt es:
Avot 3,2 (vgl. auch 3,6): Rabbi Hananja ben Teradjon sagte: Wenn zwei beieinandersitzen und zwischen ihnen sind keine Worte der Tora – fürwahr, das ist ein Sitz von Spöttern. Wie gesagt ist: ‚Und am Sitz der Spötter sitzt er nicht.‘ Aber wenn zwei zusammensitzen und in die Worte der Tora vertieft sind, ist die Schechina unter ihnen. Wie gesagt ist: ‚Damals redeten untereinander, die den Herrn fürchten, und der Herr merkte auf und hörte.‘ (Mal 3,16) Wenn ein einzelner sitzt und studiert, so rechnet es ihm die Schrift an, als habe er die ganze Tora erfüllt. Wie gesagt ist: ‚Er sitze allein und schweige, wenn er es ihm auferlegt.‘ (Klgl 3,28)
Jüdische Spiritualität hat also entscheidend mit der Tora zu tun. Gott wird erfahren, im persönlichen oder gemeinsamen Studium der Schrift. Dieses Schriftstudium kann sehr rational und diskursiv sein, es kann aber auch geradezu mystische Dimensionen annehmen. Wenn wir das eben zitierte Wort hören, dann denken wir vermutlich sofort an das Wort, wo der matthäische Jesus sagt: ‚Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mt 28,20) Es ist interessant, dass das so jüdisch geprägte Matthäusevangelium eine ähnliche Denkfigur hat, aber eben mit dem entscheidenden Unterschied, dass dort Christus an der Stelle der Tora steht. Hier zeigt sich plastisch, in welch unterschiedliche Richtungen sich damals christusgläubige Juden und Nichtjuden auf der einen und nicht christusgläubige Juden auf der anderen Seite entwickelt haben. Beide mussten sich mit dem Verlust des Tempels auseinandersetzen. Die christusgläubigen Juden haben die Katastrophe bewältigt, indem sie sagten: Der Verlust des Tempels ist für uns keine Katastrophe, weil der wahre Ort der göttlichen Gegenwart ein Mensch ist, Jesus Christus, und der ist durch seinen Geist unter uns, wo wir uns in seinem Namen versammeln. Die nicht an Christus gläubigen Juden dagegen, die zunehmend im rabbinischen Judentum ihre Identität fanden, antworteten: Auch wir haben einen neuen Ort der Gottesgegenwart, aber der ist eben nicht ein Mensch, sondern die Tora.
2) Die Schechina ist auch im Leiden gegenwärtig
Der Gott Israels ist ein die Menschen in Liebe suchender Gott. Er ist nicht der Gott der Philosophen, der letztlich unbeteiligte und „unbewegte Beweger“ des Aristoteles, sondern der, so könnte man pointiert sagen, in seiner Menschenliebe leidenschaftlich bewegte Gott. Diese göttliche Bereitschaft, in die menschliche Wirklichkeit einzutauchen, sich herabzulassen, um in solidarischer Weise bei Israel und den Menschen zu sein, kommt auch in der Schechinavorstellung zum Ausdruck.
So heißt es an einer Stelle: „Wohin immer die Israeliten verbannt wurden, war die Schechina, wenn man so sagen darf, mit ihnen verbannt. Die Israeliten wurden nach Ägypten verbannt, und die Schechina war mit ihnen … Und wenn die Israeliten in die Endzukunft zurückkehren werden, dann wird die Schechina, wenn man so sagen darf, mit ihnen zurückkehren; es heißt nämlich: ‚Und zurückkehren wird der Herr dein Gott mit deinen Gefangenen. (Dtn 30,3)“ (Mekh. Zu Ex. 12,41, Horov 51f)
Gott ist auch im Exil, im Leiden bei seinem Volk. Er leidet mit, sodass die letztgültige Erlösung auch Gott von seinem Leiden befreit.
In einem anderen Text wird betont, dass Gott selbst dort mit seiner Schechina gegenwärtig bleibt, wo Israel unrein geworden ist. Es heißt in bJom 56-57a:
„Die Gelehrten tradieren: ‚ …, der unter ihnen wohnt in all ihrer Unreinheit (Lev 16,16). Auch wenn sie unrein sind, ist die Schechina mit ihnen. Einst sagte ein Sadduzäer zu Rabbi Hanina: Wahrhaftig ihr seid unrein! … Hanina erwiderte: … Auch wenn sie unrein sind, ruht die Schechina mitten unter ihnen.“
Auch Unreinheit und Sünde hindert Gott nicht unter seinem Volk gegenwärtig zu bleiben.
3) Die Schechina hat eine gewisse Affinität zum Heiligen Geist
Die Schechina wird in verschiedenen Texten mit dem Heiligen Geist parallelisiert. Nur ein Beispiel: In Num 11,17 soll Mose, nachdem er kurz vor dem Burnout steht, sich auf göttliche Anweisungen Gehilfen nehmen (70 Älteste). Gott wird dann etwas vom Geist, der auf Mose ruht, auch auf die Ältesten kommen lassen. Der Targum Jonathan, also eine erläuternde Übersetzung bzw. Interpretation der Schrift, sagt dazu:
„Dann werde ich mich offenbaren in der Pracht meiner Schechina und dort mit dir reden. Ich werden den Geist der Prophetie vermehren und ihn auf sie legen.“
Hier merken Sie, wie eng die Rede vom Heiligen Geist und die Rede von der Schechina verwandt sind, wobei der Heilige Geist im Judentum vor allem mit dem Gedanken prophetischer Inspiration verbunden. Diese Inspiration wird stark auf alttestamentliche Gestalten und die Heiligen Schriften bezogen, sodass der Heilige Geist nicht der zentrale Topos ist, wenn es um das Wirken Gottes unter uns Menschen geht, zumindest im nachbiblischen Judentum.
Eine erste Zwischenbilanz:
Ich habe verschiedene inhaltliche Schechinavorstellungen vorgestellt, die alle auf die Nähe Gottes zu seinem Volk zielen. Nun will ich nicht verschweigen, dass es auch andere, dazu im Widerspruch stehende Vorstellungen gibt. [In manchen Texten nimmt Gott seine Schechina wieder zu sich zurück, nicht endgültig, sondern phasenweise, weil Israel gesündigt hat. Ein Rabbiner behauptet sogar, dass die Schechina nie den Himmel verlassen hat, sondern immer bei Gott geblieben ist (bSukka 5a). Mischna und Talmud sind, wie gesagt, kein dogmatisches Lehrbuch, sondern bezeugen eine Diskussion, wo auch abweichende Meinungen überliefert werden.] Dennoch deutet die Mehrzahl der rabbinischen Belege die Schechina als heilvolle Gegenwart Gottes unter Israel. In der Schechina ist Gott seinem Volk nahe.
Wenn ich diese Schechinavorstellung nun in Beziehung setze zu christlichen Vorstellungen, dann sieht mein vorläufiges Fazit so aus:
Juden wie Christen glauben an einen leidenschaftlich den Menschen suchenden Gott, einen Gott, der sich deshalb eben auch herablässt, um unter uns zu wohnen. Diese Gottesnähe zeigt sich im rabbinischen Judentum in der Schechinatradition, im Christentum darin, dass wir an den menschgewordenen Gottessohn glauben, der durch den Heiligen Geist unter uns wohnt und wirkt. Man könnte als sehr vereinfachend sagen: Dort, wo wir von Christus oder dem Heiligen Geist sprechen, sprechen die Rabbinen von der Schechina. In beiden Glaubensweisen zeigt sich, dass man Gott nicht ohne eine gewisse innere Spannung bzw. Polarität denken kann. Er ist einerseits der unfassbare Schöpfer der Welt, der über allem steht, absolute Transzendenz, gleichzeitig ist er der in seiner Liebe Israel und den Menschen zugewandte, unter ihnen wohnende und wirkende Gott, der in beiden Religionen sogar als mitleidend begriffen werden kann. Die markanten Unterschiede sind folgende:
Im rabbinischen Judentum ist die Schechina zwar eine besondere Daseinsweise Gottes, eine besondere Manifestation seiner selbst, sodass man an manchen Stellen fast überlegen kann, ob es sich nicht doch um ein göttliches Wesen in und neben Gott handelt, aber diese Interpretation wird von den Rabbinen abgelehnt. Sie betonen, dass sie kein eigenes Wesen in oder neben Gott ist, sondern seine Weise des Für-Uns-Daseins. Dort wo Schechina steht, kann auch einfach Gott stehen. Es handelt sich um metaphorische, poetische Rede. Das ist der entscheidende Unterschied zum Christentum, wo Christus und der Heilige Geist nicht nur Erscheinungsweisen Gottes sind, sondern göttliche „Personen“. In der lateinischen Theologie: „tres personae“, aber „una substantia“: ein göttliches Wesen, aber drei Personen; in der griechischen Theologie: „treis hypostaseis“, aber „mia ousia“.
Man kann überlegen, ob dieser Unterschied zum Christentum nicht bereits eine Frucht der Auseinandersetzung zwischen dem entstehenden Christentum und Judentum. Wir nehmen heute ja immer mehr wahr, dass sich nachbiblisches Judentum und Christentum nicht unabhängig voneinander entwickelt haben, sondern in steter Verzahnung und Auseinandersetzung (Boyarin). Auffällig ist jedenfalls, dass es im antiken, vorrabbinischen Judentum durchaus Vorstellungen gab, wo man Gott in enger Verbindung mit einem anderen göttlichen Wesen glaubte: Die personifizierte göttliche Weisheit z.B., die Gott noch vor der Schöpfung geschaffen hat (Sprüche 8,22 ff.; Jesus Sirach 24, 3-6), der Logos des Philo von Alexandrien, der göttlicher Natur ist, gleichsam die schöpferische Potenz Gottes, Mittler zwischen Gott und Mensch, oder der Menschensohn von Daniel 7,13, der in den Bilderreden des Äthiopischen Henoch als göttlich-messianische Gestalt neben Gott begegnet, usw. usf. All diese jüdischen Vorstellungen wurden von Christen aufgenommen, um ihre Christologie zu entwickeln. Vielleicht hat die Auseinandersetzung mit dem Christentum dazu geführt, dass man diese Vorstellungen zunehmend zurückdrängte, zumal sie auch im nachbiblischen Judentum in bestimmten Kreisen, vor allem in der Mystik, weiter einen gewissen Einfluss behielten. Man hätte dann zwei Fliegen mit einer Klappe erledigt: die Christen abgewehrt – und die „Häretiker“ in den eigenen Reihen.
Abgesehen von dieser Fragestellung finde ich die Analogien zwischen Schechinavorstellung und Christologie sehr hilfreich und inspirierend, wenn wir unser Neues Testament besser verstehen und für unsere heutige Welt aktualisieren wollen. Ein kleines Beispiel: In Joh 1,14 steht: Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Dahinter scheint eindeutig jüdische Schechinatheologie zu stecken, auch wenn der Begriff Schechina im damaligen Judentum wohl erst im Entstehen war, sehr wohl die inhaltliche Vorstellung aber bereits eine große Rolle spielte. Der jüdische Autor des Johannesevangeliums sagt dann, indem er auf diese Theologie zurückgreift, letztlich: Jesus ist der Wohnort Gottes. Das, was man im AT im Tempel verehrte, Gottes Gegenwart, ist in einem Menschen Realität geworden. Ein Mensch als Ort Gottes. Ich denke, das ist eine Denkweise, die modernen Menschen eher zugänglich ist, wie wenn wir als Christen einfach sagen: Jesus ist der Erlöser, der Sohn Gottes. Das eine schließt das andere nicht aus, aber vielleicht hilft die Vorstellung einer Einwohnung Gottes in einem Menschen besser zu erschließen, was unsere traditionelle Christologie intendiert.
Ich komme zu meinem zweiten Teil:
II Schechinavorstellungen in der jüdischen Mystik des Mittelalters
In der jüdischen Mystik, die im Mittelalter immer größere Bedeutung bekam und deren Tendenzen in einer gewissen Spannung zum rabbinischen Denken stehen, ist man viel freier mit Spekulationen und gefährlichen Vorstellungen umgegangen als im rabbinischen Judentum. Die Schechina hat z.B. an Eigenständigkeit gewonnen. Sie verkörpert einen bestimmten Aspekt, eine klar umrissene Potenz in Gott, die mit anderen Potenzen in Spannung und im Ausgleich steht. Sie ist keine eigenständige Hypostase wie die trinitarischen Personen im Christentum, aber doch ein in Gott abgegrenzter Bereich. Sie wurde außerdem immer mehr als der weibliche Aspekt in Gott begriffen. Lassen Sie mich, um diese etwas verwirrende Mystik zu verstehen, mit der Grundfrage beginnen, die diesem mystischen Denken zugrunde liegt.
Ich habe bereits auf die schon in der Bibel vorhandene Spannung zwischen dem transzendenten und dem immanenten, den den Menschen suchenden Gott hingewiesen.
Einerseits ist Gott unbegreifbar, so sehr, dass man sich kein Bild von ihm machen soll, dass man es im Judentum nicht einmal wagt, seinen Namen auszusprechen. Andererseits wird in der Bibel in äußerst anthropomorpher Weise von Gott gesprochen. Er riecht, handelt, liebt, zürnt, usw. Diese Spannung wurde im hohen Mittelalter, in dem die Rationalität neu aufblühte, klar nach der rationalen Seite hin verstärkt. Große jüdische Theologen wie Maimonides, der auch ein großer Aristotelesfan war, behaupteten, dass man von Gott nur noch in negativen Attributen reden könne. Gott existiert, aber wer er genau ist, bleibt letztlich unsagbar. Es ist klar, mit einem solchen Gott nur schwer eine Beziehung haben kann, geschweige denn eine persönliche Spiritualität entwickeln. Deshalb haben die mystischen Kreise im Judentum einen Weg gesucht, beides miteinander zu verbinden. Sie haben nicht einfach gesagt: Die Theologie gehört auf den Scheiterhaufen, wir zelebrieren einfach eine erfahrbare Spiritualität, wie sie in der Bibel ja auf fast jeder Seite begegnet, sondern sich bemüht, das Problem zu lösen, indem sie unterschieden zwischen dem Gott, den man wirklich nicht erkennen kann und dem Gott, der sich in seiner Offenbarung gezeigt hat. Ich stelle Ihnen ihr Modell einfach mal vor, um in diesem Rahmen dann auch die Schechina einzuordnen. Das, was ich Ihnen hier vor Augen führe, ist letztlich das Gottesbild des Sohar, einer mystischen Schrift aus dem 13. Jahrhundert. (Zeigen des Bildes)
Sie sehen ganz oben im ersten Kreis: Gott, der auf Hebräisch als Ejn Sof bezeichnet wird, was so viel heißt wie ‚ohne Grund‘, unfassbar und unerkennbar. Das ist der Gott des Maimonides, und den gibt es. Dieser Gott jedoch beschließt irgendwann eine Schöpfung zu schaffen und sich den Menschen mitzuteilen, was zur zwangsläufigen Folge hat, dass er sich von oben herab den Menschen zuwenden muss. Er muss dabei gleichzeitig sein Gottsein nach unten hin reduzieren bzw. einschränken, denn würde er das nicht tun, dann würde seine Göttlichkeit den Menschen erdrücken. Kurz: Gott nimmt sich zurück, damit der Mensch nicht in der göttlichen Hitze verglüht.
Im mittleren Teil sehen Sie zehn Namen bzw. Aspekte oder Potenzen in Gott. Im Hebräischen werden sie Sephirot genannt: Sphären. Zwischen diesen Sephirot gibt es eine gewisse Spannung. Chessed Z.B. steht für Gottes Liebe und Barmherzigkeit, Din für seine Gerechtigkeit und Gericht. Wenn beides im Einklang ist, dann ist alles gut, und dann erwächst daraus die Eigenschaft von Tifferet, also ein integrierter Zustand, würden wir sagen. Diese Spannung gibt es in ähnlicher Weise auf einer unteren Ebene. Wichtig ist für uns jetzt natürlich vor allem die letzte Sefira, die Schechina. Sie bildet gleichsam den Übergang. Sie ist die unterste der göttlichen Manifestationen, noch göttlich, aber ein wenig weniger mit Gott geladen als die oberen Sefirot. Gleichzeitig ragt sie in die Menschliche Welt hinein, wird als Größe gedacht, die die ganze Welt durchdringt, in der Seele des Menschen präsent ist und in besonderer Weise in Israel. Die Schechina ist der letzte und entscheidende Teil der gott-menschlichen Verbindungsbrücke. Durch sie wird Gott erfahrbar. Ich kann als den sich mir offenbarenden Gott erfahren, und dennoch ist mit Ejn Sof unzugänglich. Das ist sozusagen die jüdische Variante von deus absconditus und deus revelatus. Es ist klar, dass mit dieser Konzeption viele offene Fragen verbunden sind, aber das ist jetzt nicht mein Thema.
III Ein kurzer Ausblick auf den Chassidismus
Bevor ich zum Ende komme, möchte ich Sie in eigentlich unverantwortlicher Kürze noch auf den Chassidismus hinweisen, den man als eine Art charismatische Erneuerungsbewegung des 18. Jh. innerhalb des traditionellen osteuropäischen Judentums verstehen kann. Ich möchte darauf deshalb nicht verzichten, weil sich beim Chassidismus die erfahrungsbezogene Seite der Schechinatheologie besonders plastisch zeigt.
Der Gründer des Chassidismus war Israel ben Eliezer (1700-1760), oft auch nur Baal Schem Tov, der Meister des guten Namens genannt. Er war Synagogendiener, hat sich talmudische und kabbalaistische Kenntnisse angeeignet, sich immer wieder in die Einsamkeit der Karpaten zurückgezogen, um dort Tora zu studieren und zu beten. Im Alter von 36 Jahren tritt er an die Öffentlichkeit. Die Spiritualität, die er propagiert, ist sehr emotional, hat ganz viel mit innerer Hingabe und Gesinnung zu tun, nicht so sehr mit dem Leben nach dem Religionsgesetz, obwohl er dagegen nicht opponiert hat. Wir würden sagen: eine intensive Herzensfrömmigkeit, eine Art jüdischer Pietismus oder Pentekostalismus. Nur zwei Beispiele für die Eigenart dieser Herzensfrömmigkeit:
Am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungstag, wo man Gott um Vergebung seiner Sünden bittet, befindet sich unter den Gottesdienstbesuchern auch ein einfacher Hirtenjunge. Mitten im Gottesdienst nimmt er seine Flöte heraus und spielt darauf. Dann sagt er: „Herr der Welt, das ist mein Gebet, nimm es an.“ Alle sind entstzt und wollen ihn am liebsten rausschmeißen, aber Baal Shem Tow sagt: „Dieser Pfiff hat das Verhängnis zerrissen, das über uns gewaltet hat.“ Darauf also kommt es an: auf eine hingebungsvolle Herzensfrömmigkeit.
Ein zweites Beispiel: Der Schüler eines Rabbiners will zu einem weisen Mann gehen, einem Heiligen, einem Zaddik, um von ihm zu lernen. Der Rabbi sagt: „Geh hin. Mach das. Keine schlechte Idee.“ Der Zaddik hat nun aber einen ganz normalen Beruf. Er ist Kneipenwirt. Als der junge Mann ihn in seiner Kneipe trifft und ihm sein Anlegen vorbringt, sagt er: Klar, warum nicht, du kannst mir helfen. So arbeitet er tagelange dort mit, aber die Erleuchtung bleibt aus. Am Ende der Woche geht er zu seinem Rabbi zurück und erzählt diesem von seiner enttäuschenden Erfahrung. Der sagt darauf: „Ja, weist du denn nicht, wenn er die Gläser reinigt, reinigt er die Welt und macht so die Funken frei, die in der beschmutzten Materie sind und führt sie in die Weltseele zurück.“
Diese Satz führt uns zur Schechinatheologie zurückführen und kann uns vielleicht begreiflich machen, wie Spiritualität und Theorie hier zusammenhängen:
Gott, so die Theorie, ist durch seine Schechina in der Welt. Aber diese Welt und die Schechina passen nicht so ganz zusammen. Die Schechina, so könnte man vielleicht sagen, verliert unter den Menschen ihre klare göttliche Konzentration. Sie gerät in einen Zustand der Entfremdung. Sie ist überall ein wenig, sozusagen in Funkenform, aber sie hat ihre göttliche Dichte und Konzentration verloren. Sie ist immer noch an den göttlichen Stromkreislauf angeschlossen, aber es fließt nicht nur göttliche Energie von oben nach unten, sondern durch den weltlich-menschlichen Einfluss kommt Gott auch mit viel Ungöttlichem in Berührung, was die göttliche Balance stört. Kurz: Gott bzw. seine Schechina hat sich durch Berührung mit dem Menschlichen etwas schmutzig gemacht. Was also ist zu tun? Die Antwort des Chassidismus: Wir müssen in allem die göttlichen Funken entdecken, das Gute, die göttliche Potenz in allem, um es gleichsam zu Gott zurückzuführen. Das ist der Prozess des Tikkun, der Prozess der Erlösung, und der überall dort geschehen, wo etwas in Kawannah, in Hingabe und Gottesliebe getan wird. Wenn ich in einem Menschen das Gute suche, trotz allem Bösen, das ich von ihm erfahren habe, wenn ich in allem Dunklen nach dem Lichten suche, wenn ich in der Natur die göttliche Herrlichkeit entdecke, und eben auch: wenn ich mit Hingabe Gläser reinige, dann kommt ein Funken der Schechina zu Gott zurück. In einer christlichen Weise könnte ich es vielleicht so ausdrücken. Alles hat so etwas wie eine göttliche Bestimmung in sich. Wo diese Bestimmung realisiert wird, geschieht Erlösung.
5 Fazit:
Ich denke, es ist klar geworden, dass auch für Juden die Frage, wie man Gott erfahren kann, entscheidend ist. Eine zentrale Antwort des rabbinischen Judentums heißt: durch die Schechina, durch die Gott unter seinem Volk Israel Wohnung genommen hat. Diese Schechina ist keine göttliche Hypostase, sondern eine besondere Weise, wie Gott sich zeigt und wirkt, im Unterschied zum Christentum, wo Christus und der Heilige Geist eigene göttliche „Personen“ sind.
In der jüdischen Mystik gewinnt diese Schechina zusammen mit anderen göttlichen Aspekten mehr Selbstständigkeit. Hier wird ein Gott beschrieben, der höchst dynamisch ist, in dem es Pluralität und Differenz gibt, und dennoch sind diese einzelnen Aspekte keine eigenen göttlichen Wesen in Gott, sondern Ausdruck der in Gott vorhanden Fülle und Vielfalt. Das ist immer noch etwas anderes als der trinitarische Gott der Christen, denn Gott in sich selbst wird nicht als periochretische Beziehung von drei göttlichen „Personen“ gedacht, sondern als eine Person, wenn auch mit vielfältigen Aspekten. Dennoch gewinnen Beziehungsaspekte in diesem Denken an Bedeutung, sodass sich hier ein spannender Dialog mit der christlichen Gottesvorstellung ergeben könnte.
Bezogen auf die Erlösung gibt es schon bei der rabbinischen Schechinavorstellung, aber noch mehr in der jüdischen Mystik einen überaus bedeutsamen Gedanken: Durch seine Berührung mit den Menschen in Form der Schechina, ist in Gott etwas durcheinander gekommen. Gott lässt sich also durch das Schicksal von Welt und Menschen im Innersten berühren. Die Folge: Dort, wo sich im Menschen Erlösung ereignet, wo in und durch den Menschen Göttliches und Weltliches wieder zusammenkommen, wird auch Gott erlöst und seine ursprüngliche Einheit wiederhergestellt. Also nicht nur: Gott erlöst den Menschen, sondern auch: Der Mensch erlöst Gott, nämlich von seinem Leiden an einer gefallenen Schöpfung. Dier Initiative der Erlösung liegt ohne Zweifel bei Gott. Aber im Prozess der Erlösung spielt auch der Mensch eine entscheidende Rolle. In radikalen Entwürfen moderner jüdischer Denker wie Hans Jonas sieht das dann so aus, dass Gott seine Allmacht bei der Schöpfung zurückgenommen hat, er sich entschlossen hat nur noch in Liebe und Freiheit um den Menschen zu werben, ohne ihn zu zwingen, sodass nun die Frage ob das Experiment Schöpfung erfolgreich ist, allein am Menschen hängt.
Hier könnte man nun ganz schnell sagen: Das ist der Unterschied zum Christentum. Gott erlöst den Menschen und nicht umgekehrt. In gewisser Weise ist das auch richtig. Dennoch frage ich: Zielt nicht auch das Christentum darauf, dass wir Leid und Unerlöstheit nicht nur deshalb reduzieren wollen, weil es für uns Menschen schlecht ist, sondern auch deshalb, weil wir Gott lieben und daran leiden, dass Gott leidet, wir uns also auch danach sehnen, dass Gottes Leiden vermindert wird. Kann man das überhaupt noch trennen, wenn man Gott auf unserer Seite sieht und wir uns in Gott hineingenommen wissen? Dietrich Bonhoeffer schreibt in seinem Gedicht Christen und Heiden:
Christen und Heiden
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.
Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit und hoffe, dass ich ein wenig verdeutlichen konnte, dass Juden ihre Gotteserfahrung zwar anders artikulieren als Christen, dass für sie die Erfahrung eines den Menschen in Liebe suchenden und den Menschen nahen Gottes aber dennoch von großer Bedeutung ist. Beide sind, je auf ihre Weise, Panentheisten. Gott ist nicht die Welt, aber Gott ist uns in allem gegenwärtig und nahe. Vielleicht ist er gerade deshalb auch immer noch der ganz andere, der für uns „begreiflich Unergeifbare“ (Per Lonning).
Dr. Peter Hirschberg
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