Liebe Gemeinde,
Aber Hand aufs Herz, eine solche Interpretation klingt natürlich auch ein wenig nach Tausend und einer Nacht, nach einem schönen Märchen, nach einem Rosamunde Pilcher-Film. Solche Flüchte aus der Wirklichkeit gönnt man sich ab und zu bei einem guten Glas Wein, aber man erwartet sich davon wenig für das reale Leben.
Jetzt kommt aber nochmals ein „aber“, ein leicht ungläubiges, ein leicht zweifelndes, aber auch ein hoffendes und mutiges „aber“. Was ist, wenn es sich hier um kein Märchen à la Tausend und einer Nacht handelt? Was ist, wenn uns hier eine Haltung, eine Gesinnung nahegelegt wird, die unser Leben real zum Positiven hin verändern könnte? Vielleicht nicht gleich so, dass ein Erdbeben alle Gefängnistüren und Fesseln sprengt, aber vielleicht so, dass durch eine neue Haltung eine Kraft in dieser Welt entfesselt wird, die alle Bollwerke der Sinnlosigkeit, Unwahrhaftigkeit und Lieblosigkeit niederreißen kann? Vielleicht bräuchten wir ja gerade heute eine solche Haltung! Wir sind total gut darin, Trauer- und Klagelieder zu singen, melancholische und depressive Lieder angesichts des befürchteten endgültigen Niedergangs. Aber Lieder der Hoffnung und Zuversicht – und was bräuchten gerade junge Menschen dringender – hört man nur selten.
Ist die Geschichte von Paulus und Silas also doch eine realistische Geschichte? Ich würde sagen: Ja! Ich will das aber nicht nur behaupten, ich will es auch begründen.
Paulus und Silas landen im Gefängnis, weil sie ihren Glauben mutig bekannt haben, weil sie, wie es vorher so schön heißt, in Philippi für Aufruhr gesorgt haben. Sie haben einen Gott verkündigt, der nicht alles beim Alten lassen will, der den bequemen Status Quo um einer besseren Zukunft willen überwinden will, der möchte, dass man von seinen bequemen Sessel der Selbstzufriedenheit aufsteht und wieder beginnt, sich für das Neue einzusetzen, das Gott uns schenken will. So etwas kommt nie bei allen gut an. Es ist unbequem. Also: weg mit Paulus und Silas. Schmeißt sie ins Gefängnis.
Dort sitzen sie nun, und kaum, dass das Schloss in die Riegel gefallen ist, fangen sie fröhlich an zu singen. War das wirklich so? Steht es so in der Bibel? Nicht ganz! Um Mitternacht, so heißt es, fingen sie an, Gott zu loben. Da man sie aber anscheinend zur Marktzeit festgenommen hat, sitzen sie anscheinend schon länger ein. Kurz: Ich kann mir gut vorstellen, dass sie nicht gleich gesungen haben, sondern sie vielleicht erst mal Zeit brauchten, all das zu verarbeiten. Vielleicht haben sie ihren Frust miteinander geteilt. Vielleicht haben sie versucht, in all dem hoffnungsvolle Perspektiven zu entdecken. Vielleicht haben sie auch Klagelieder gesungen. Kurz: Es könnte sein, dass das mit dem fröhlichen Singen ein wenig gedauert hat.
Darin steckt für mich eine wichtige Botschaft: Es ist okay, wenn wie erstmal zu unseren Frust stehen, uns darüber austauschen, klagen und trauern. Gott will uns nicht über unsere Köpfe hinweg zur Fröhlichkeit zwingen. Das wäre ja doch nicht echt. Ja: Nietzsche hat recht: Wir sollten als Christen oft fröhlicher ausschauen, wenn man uns unsere Botschaft abnehmen soll, aber eine gezwungene Fröhlichkeit nützt auch niemand was. Deshalb: Zeit, sich das Leid von der Seele zu reden, ist wichtig. Das hilft der Psyche. Das entlastet. Das ist auch wichtig für unsere persönlichen Gespräche!
Das Problem ist nur: Wenn man sich zu sehr mit dem Negativen beschäftigt, oder sich nur noch mit dem Negativen beschäftigt, dann zieht uns das herab, dann erzeugt das eine Miesepetrigkeit, die nicht nur schlechte Laune macht, sondern auch nichts positiv in Bewegung bringt: Politik!
Es kommt also alles darauf an, dass man eine neue Perspektive bekommt, eine Perspektive, die Lust und Hoffnung macht, sodass man lernt die Dinge wieder positiv anzugehen. Eine solche Perspektive, wenn sie wirklich taugen soll, kann aber nur von außen kommen, von einer Dimension, die größer ist als alles, was wir uns vorstellen können, die uns Lösungsmöglichkeiten zuspielen kann, auf die wir nie gekommen wären, weil wir immer nur gedacht haben, dass es zwei Möglichkeiten gibt. Sie müsste auch von einer Instanz kommen, die nichts und niemand aufgibt, sondern alles mit Liebe umfängt und zum Guten leitet. Diese Instanz ist Gott, und dieser Gott hat an Ostern gezeigt, dass er nicht bereit ist sich mit Leid, Tod und Schmerz abzufinden. Er hat Christus auferweckt, auch um ein Zeichen zu setzen, um deutlich zu machen: Am Ende steht nicht das Dunkel und der Tod, sondern Gottes alles zum Guten verwandelnde Lebensmacht.
Die Bibel ist eine ständige Ermutigung, diesen Gott nicht zu vergessen, ihm eine Chance zu geben, ihm Raum zu geben. In der Abendmahlsliturgie heißt es: Erhebet eure Herzen. Antwort der Gemeinde: Wir erheben sie zum Herrn. Mit anderen Worten: Gebt diesem liebenden Gott eine Chance. Betrachtet die Wirklichkeit aus seiner Perspektive. Vereint euch mit ihm, und vertraut darauf, wenn auch nur zaghaft, dass er etwas in Bewegung bringen kann.
Genau das machen Paulus und Silas um Mitternacht: Sie loben Gott in Liedern. Sie sagen: Gott, auch wenn es manchmal schwerfällt es zu glauben: Du bist doch unser Schöpfer, …, du bist doch unser Liebhaber, …, wir wollen uns dir anvertrauen und glauben, dass du uns Gutes zukommen lässt. Dieser Schritt ist nie leicht, weil wir immer denken, dass wir alles allein schaffen müssen. Es ist immer eine Kränkung unseres Ego, wenn wir bekennen, dass wir mit unserem Latein am Ende sind, aber dieses innere Loslassen und sich Gott-Übergeben ist die entscheidenden Bedingung dafür, dass etwas besser werden kann, in unserem Leben und in der Welt. Wir können das gute Leben nicht produzieren, wie können es uns nur schenken lassen.
Erdbeben kommen in Kleinasien häufig vor. Dass ausgerechnet jetzt eines stattfindet und Paulus und Silas aus dem Kerker befreit, können die beiden nicht anders als ein Wunder empfinden. Wenn wir uns Gott anvertrauen, indem wir zuversichtlich singen, beten oder uns auch nur ganz still mit ihm kommunizieren, müssen nicht gleich die Wände wackeln, das wollen wir vielleicht auch gar nicht, und doch beginnt vielleicht etwas zu wackeln. Vielleicht wird mir ein neuer Blick geschenkt, eine dritte Lösung zugespielt. Ich dachte immer: es gäbe in dieser verkorksten Beziehung immer nur zwei Möglichkeiten: entweder ich nehme mich zurück bis zur Selbstverleugnung, und dann herrscht ein fauler Friede, aber immerhin Friede, oder ich bringe mich voll ein und dann gibt es ein Erdbeben, aber kein befreiendes, und plötzlich kommt mir ein Gedanke, wie beides gelingen kann: mich selbst nicht verleugnen und doch auch dem anderen entgegenkommen, so dass vielleicht Neues entstehen kann. Missverstehen Sie mich nicht: Ich sage nicht: Glaube nur, und dann wird alles gut. Manchmal gibt es vielleicht auch keine Lösungen. Manchmal ist die Lösung, dass ich lernen muss, mit ungelösten Frage zu leben und zu sterben. Aber auch wenn mir das in einem speziellen Fall klar wird, ist das etwas, was ich dankbar von Gott als Aufgabe begreifen darf und was damit Sinn bekommt. Aber wie gesagt: Sich ihm anvertrauen, warten und hoffen, und nicht zu schnell die Flinte ins Korn werfen.
Jetzt habe ich mich stark auf Paulus und Silas konzentriert, aber den Gefängniswärter vernachlässigt. Für ihn war das Erdbeben, das Paulus und Silas als Rettung erfuhren, eine große Katastrophe. Ein Gefängnisaufseher, der seine Gefangen entwischen lässt, der muss mit dem Schlimmsten rechnen. Deshalb ist er völlig verzweifelt und will sich das Leben nehmen. Aber so weit kommt es Gott sei Dank nicht. Denn Paulus und Silas sind noch da. Sie haben sich nicht aus dem Staub gemacht. Sie nehmen sich seiner an und verkünden ihm in seiner Verzweiflung die Botschaft von dem Gott, der auch ihm, dem Gefängniswärter, liebevoll zugewandt ist. Der Gefängniswärter lässt sich darauf ein: Er vertraut sich diesem Gott an, mitsamt seiner Familie, sodass auch bei ihm Freude und Zuversicht einkehren.
Was braucht unsere Welt? Was brauchen die Menschen, mit denen wir zu tun haben? Sie brauchen keine spirituellen Überflieger, denen es nur um die eigene Seligkeit oder das eigene Wohlbefinden geht, die nur ihre Haut retten wollen. Sie brauchen Menschen, die ihre Hoffnung und Zuversicht teilen, sich anderer liebevoll annehmen. Paulus und Silas können das: Sie können es, weil die Liebe, auf die sie vertrauen und die sich besungen haben, keine Grenzen kennt. Sie können es, weil sie ihr Leben Gott anbefohlen haben und wissen: Wenn er uns aus dem Kerker errettet hat, dann kann er auch dann weiter für uns sorgen, wenn wir uns jetzt nicht aus dem Staub machen. Sie sind die Sorge um sich selbst ein Stück los und deshalb können sie selbst in einer solchen prekären Situation noch für andere als Boten der Liebe da sein.
Wollen wir auch solche Menschen werden? Das ist möglich! Aber es ist nur dann möglich, wenn wir uns nicht gleich in Aktivismus stürzen, um die Welt zu retten, sondern wenn wir zuerst dafür sorgen, dass wir zu einer Haltung finden, in der wir die Sorge um uns selbst Gott anvertrauen, um dann befreit von dieser Sorgenlast ganz präsent für die Menschen und unsere Welt da sein können. Deshalb ist mir Spiritualität so wichtig: Wir müssen Wege finden, in denen zuerst wir heilsame Erfahrungen mit Gott machen, damit wir als etwas heilere Menschen Heil und Heilung vermitteln können. Das bedarf der Übung. Das bedarf freigehaltener Räume und Zeiten, die uns helfen, immer wieder zu sich selbst zu kommen, um sich dann Gott zu überlassen. … Er ist ja da, für uns da. Wir müssen nur lernen, diese heilsame Gegenwart wahrzunehmen und uns ihr anzuvertrauen. Die Hoffnung auf ihn, diesen alles überschreitenden Horizont radikaler Liebe und Zuwendung, ist das, was unsere so hoffnungslos gewordene Welt dringend braucht.
Amen