Israel - das erwählte Gottesvolk? - eine Predigt zum Israelsonntag (Ex 19, 1-9)

Liebe Gemeinde,

wenn heute ein Mensch oder ein Volk von sich sagen würde „ich bin von Gott erwählt“ oder „wir sind von Gott erwählt“, dann würde eine solche Aussage kaum auf positive Resonanz stoßen. Viele würden denen, die so von sich sprechen, unlautere Motive unterstellen, nach dem Motto: „Die wollen etwas Besseres sein. Die stellen sich über uns, und wenn es ganz schlimm kommt, dann werden sie uns vielleicht sogar unterdrücken.“

Ganz unverständlich sind solche Befürchtungen nicht. Immer wieder gab es Völker und Staaten, die der Überzeugung waren, dass an ihrem Wesen die Welt genesen soll. In den USA gibt es zum Beispiel ein tief religiös begründetes Denken, das dazu führte, dass man sich als von Gott erwählt betrachtete und betrachtet, dazu bestimmt, für das Gute und gegen das Böse zu kämpfen. Manchmal hat dieses Denken auch durchaus gute Früchte gebracht. Doch wie schnell das Ganze umschlagen kann, hat man an George W. Bush gesehen, der mit seiner Achse des Bösen ganze Völker verunglimpft hat und mit seinem Krieg im Irak viel Unheil angerichtet hat. Wir als Deutsche sind hier besonders sensibel, und wir sind es wahrscheinlich deshalb, weil wir die schlimmste Form eines solchen Erwählungsdenkens in unserer eigenen Geschichte erlebt haben. Die Deutschen als arische Herrenrasse, von der Vorsehung dazu bestimmt, die Welt zu beherrschen. Mehr brauche ich dazu nicht zu sagen.

Die Vorstellung „erwählt zu sein“ ist also nicht unproblematisch. Dennoch spielt sie in der Bibel eine wichtige Rolle. Paradebeispiel dafür ist der heutige Predigttext, und das obwohl das Wort „erwählt“ hier eigentlich gar nicht vorkommt. Doch in der Sache geht es genau darum! Gott hat Israel aus der ägyptischen Sklaverei befreit, hat es auf Adlerflügeln durch die Wüste getragen und in die Freiheit gebracht, um am Sinai mit ihm einen Bund zu schließen: „Ihr sollt mein Eigentum sein vor allen Völkern!“ Israel wird ausgesondert von allen Völkern, wird erwählt und mit einem einzigartigen Auftrag versehen. Da mag so mancher denken: Kann das denn sein? Ist Gott parteiisch? Hat er ein paar Lieblingskinder, die ihm wichtiger sind als alle anderen? Gerade von Gott erwarten wir doch, dass er in fairer Weise der Gott aller Menschen ist. Doch wenn man genauer hinsieht, dann merkt man schnell, dass dieses Missverständnis von Erwählung hier nicht unterstützt wird. Erwählung ist biblisch gesehen immer Erwählung für die anderen. Wenn Israel ein priesterliches, ein heiliges Volk sein soll, dann bedeutet das also nicht, dass es in selbstgenügsamer Weise seinen Status genießen soll und es ihm egal sein kann, was aus den anderen wird. Was ist denn die tiefste Berufung eines Priesters? Ein Priester soll Gott vor den Menschen und die Menschen vor Gott vertreten. Sie merken: Mit Dünkel und Arroganz hat dies alles nichts zu tun. Gott erwählt nicht ein Volk, damit er die anderen vernachlässigen kann. Sondern umgekehrt: Gerade weil ihm alle wichtig sind, muss er irgendwo anfangen. Wenn Sie einen Sumpf trockenlegen wollen, dann brauchen sie festen Boden unter den Füßen, einen Ort, von wo aus sie dieses Unternehmen in Gang bringen können. Wenn Gott die Welt erlösen will, dann braucht er auch eine Basis, um mit seinem Werk zu beginnen. Dass es gerade das jüdische Volk ist, dem sich Gott zugewandt hat, hat jedenfalls nichts damit zu tun, dass Juden irgendwie besser wären als andere. Es ist ein unbegreiflicher Akt der göttlichen Barmherzigkeit. Theoretisch gesehen hätten es auch die Oberfranken sein können!

Dennoch bleibt natürlich die überaus brenzlige Frage: Wird Gottes Experiment gelingen? Werden diejenigen, die er erwählt hat, sich auch erwählt verhalten? Werden sie diesem fast schon übermenschlichen Anspruch gerecht werden? Oder werden sie nicht doch in der Gefahr stehen, sich für etwas Besseres zu halten, auf die anderen herabzublicken, die Zuwendung Gottes als sanftes Ruhekissen zu missbrauchen. „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern.“ Wunderbar! Was aber, wenn nicht? Israel wurde im Laufe seiner Geschichte immer wieder schmerzlich mit dieser Frage konfrontiert. Es musste erfahren, dass es eben oft nicht so gelebt hat, wie Gott es wollte. Hier am Sinai sagen alle: Ja, wir wollen die Gebote Gottes halten. Vermutlich war das auch ernst gemeint, und doch musste Israel immer wieder erfahren, dass es eine Sache ist, in feierlicher Stunde ein hehres Bekenntnis von sich zu geben, und eine andere, dieses dann auch in den Auseinandersetzungen des Lebens zu bewähren. Die Kritik der Propheten jedenfalls war vernichtend, und in vielen Katastrophen sahen Juden Gott am Werk, der durch solche Gerichte Israel wieder auf den richtigen Weg führen will. Nicht selten hat man gefragt: Sind wir nach allem Versagen immer noch Gottes Volk? Oder hat Gott sich endlich von uns losgesagt? Vor diesem Hintergrund wurde Erwählung oft mehr als Last wie als Lust empfunden. So ähnlich hat es mal meine Hebräischlehrerein formuliert, die selbst Jüdin ist. Auf die Frage, was sie denn so über Erwählung denke, hat sie geantwortet: „Ach, hätte Gott uns nur ein wenig weniger erwählt sein lassen, dann hätten wir wesentlich weniger Probleme.“ Das Erstaunliche ist, dass Israel auch in unserer säkularen Welt immer noch an diesem Anspruch gemessen wird. Anders kann ich es mir jedenfalls nicht erklären, dass politisches Versagen in Israel oft viel kritischer betrachtet wird als in anderen Ländern.

Deshalb frage ich nun einmal sehr zugespitzt: Was ist, wenn Juden versagen, wenn sie nicht tun, was ihnen Gott gebietet? Ist dann alles aus? Paulus hat diese Frage einmal ganz ähnlich gestellt. Für ihn als christusgläubigen Juden bestand das größte Problem dabei darin, dass der größte Teil Israels Jesus von Nazareth nicht als den von Gott gesandten Messias angenommen hat. Ausdrücklich formuliert er deshalb: „So frage ich nun: Hat denn Gott sein Volk verstoßen?“ (Röm 11,1)

Die späteren Christen hatten mit der Beantwortung dieser Frage kein Problem. Für sie war klar: Israel hat Jesus abgelehnt und deshalb wurde es von Gott verstoßen. Es ist die so genannte Enterbungstheorie, die man in der Alten Kirche entwickelt hat. Sie besagt, dass Israel von Gott aufgrund seines Ungehorsams enterbt wurde und an die Stelle des alten Israel ein neues Israel trat, eben die Kirche. Die Juden als verstockte Gottes- oder Christusmörder! Man kann sich vorstellen, dass diese Lehre schlimmste Folgen hatte. Juden wurden diskriminiert und ausgegrenzt, verfolgt und ermordet. Schließlich bereitete der kirchliche Judenhass den Boden für den rassistischen Antisemitismus der Nazis, sodass Christen zumindest eine Mitverantwortung für die millionenfache Ermordung von Juden tragen.

Doch wenn man so argumentiert wie die Theologen der Alten Kirche, dann muss man schon einmal genau und sehr selbstkritisch fragen, was man damit eigentlich macht. Denn wenn wir als Kirche tatsächlich das neue, das von Gott erwählte Israel sind, dann gelten für uns die gleichen Maßstäbe wie für das alte Israel, dann müssen auch wir uns fragen: Leben wir denn so, wie Christus es sich eigentlich wünscht, individuell und kollektiv? Und wenn nicht, wer sagt denn dann, dass wir immer noch von Gott geliebt und erwählt sind? Handelt Gott wie ein Fußballtrainer, der seine Spieler dauernd auswechselt? Nach dem Motto: „Erwählungskandidat Eins raus, du hast versagt.“ „Erwählungskandidat Zwei ebenfalls raus, du hast auch versagt.“ Kommt nun Kandidat Drei an die Reihe, wer immer das nach Judentum und Christentum auch sein mag? Und wenn ja, dürfte man wirklich hoffen, dass der seinen Job besser erfüllt?

Doch kehren wir zu Paulus zurück: Wie antwortet er denn nun? Hat Gott sein jüdisches Volk verworfen? Nein, hat er nicht! Begründung: Gott ist treu, und menschliche Untreue kann Gottes Treue nicht aufheben. Gott wird mit Israel trotz seines Versagens ans Ziel kommen. Er hält sich an die Verheißungen, die er Abraham, Isaak und Jakob, den Stammvätern Israels, gegeben hat. Er selbst wird Israel seinen Messias Jesus offenbaren, auf seine Weise und zu seiner Zeit – und bis dahin trägt Gott sein jüdisches Volk durch die Wirren der Geschichte. Auch mit der Kirche und mit uns persönlich wird Gott trotz all unserem Versagen ans Ziel kommen. Gott gibt uns nicht einfach auf, so schlimm unser Verhalten oft auch sein mag. Diese Gewissheit prägt Paulus, und letztlich hat er diese Gewissheit von seinem Glauben an Jesus Christus. Der, der am Kreuz seinen Vater gebeten hat „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“, lässt sich nicht so leicht von unserer Bosheit abschrecken. Er gibt nicht auf, bis er unsere Liebe gewonnen hat. Paulus hat das an sich selbst erfahren. Ihn, der von einem fanatischen Christenhass besessen war und der nicht das geringste Interesse hatte umzukehren, ihn hat Gott durch seine grundlose Barmherzigkeit errettet und zu seinem Diener gemacht.

Was bedeutet dies nun für unseren heutigen Umgang mit dem jüdischen Volk? Es bedeutet zuallererst, das wird das jüdische Volk als Gottes ersterwähltes Volk anerkennen und nicht vergessen, dass das Judentum die Wurzel ist, die auch unseren Glauben trägt. Und was unseren konkreten Umgang mit Juden und Jüdinnen angeht, so sollten wir uns stetig darum bemühen, in einen lernbereiten, aber auch ehrlichen Dialog zu treten. Lernbereit, weil es viel gibt, was Gott uns durch den jüdischen Glauben zu sagen hat. Ehrlich, weil ein Gespräch nur dann echt und liebevoll ist, wenn wir unsere Position nicht verschweigen, sondern uns dem anderen so zumuten wie wir nun einmal sind. Das gilt für den Bereich des Glaubens, wo wir sich nicht darum herum kommen, immer wieder deutlich zumachen, warum uns Jesus Christus so wichtig ist. Und das gilt natürlich auch für den Bereich der Politik, wo wir – um Israels willen – nicht schweigen dürfen, wenn von Juden Menschenrechte verletzt und Palästinenser diskriminiert und misshandelt werden. Freilich: Eines müssen wir uns als Christen dabei immer sehr selbstkritisch fragen: „Kritisieren wir wirklich aus Liebe, aus Liebe zu Juden und Palästinensern, oder tun wir es nur deshalb, weil wir uns so als die großen Friedensengel und Gutmenschen überheblich über die anderen stellen können. Ich denke jedenfalls: Wir sind herausgefordert, Israel auch dort zu lieben, wo das – menschlich gesehen – nicht immer leicht ist. Wird uns das gelingen? Ich weiß es nicht, aber vielleicht ist es gerade das, worauf heute alles ankäme und worum wir heute am Israelsonntag mit aller Leidenschaft beten sollten.

Amen

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Gestern habe ich ein kleines Büchlein gelesen: „Das Café am Rande der Welt“, von John Strelecky. Ein Bestseller! Deutsche Erstausgabe: 2007. Ich halte die 54. Auflage aus dem letzten Jahr in der Hand. Beachtlich! Wieder mal ein Bestseller, den ich relativ spät gelesen habe.

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