Martin Bubers Dialogphilosophie als Anstoß für den christlichen Glauben

Martin Bubers Dialogphilosophie als Anstoß für den christlichen Glauben

„Beziehung ist Gegenseitigkeit. Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke.“ Echte Begegnung im Buberschen Sinn ist also immer reziprok. Ich wirke auf mein Gegenüber, auf das Du, das mir begegnet, und umgekehrt wirkt mein Gegenüber auf mich. So ist es eigentlich unmöglich, daß jemand unverändert aus einer echten Begegnung hervorgeht. Ganz im Gegenteil: echte Begegnung zeichnet sich gerade dadurch aus, daß nicht alles beim Alten bleibt. Echte Begegnung, echte Du-Erfahrung verändert.
Die folgenden Überlegungen zu Martin Buber wollen in diesem Sinne einige Veränderungen, einige Wirkungen beschreiben, die die Begegnung mit der Buberschen Dialogphilosophie im Kopf und im Herzen eines christlichen Theologen hervorgebracht hat. Es soll also nicht primär um „die“ Bubersche Dialogphilosophie gehen, sondern eher um deren Reflex, nicht um eine objektive Darstellung, sondern um die subjektive Wahrnehmung Buber¬schen Denkens. Kurz und gut: Das Folgende ist ziemlich unwissenschaftlich. Aber das ist in diesem Fall vielleicht nicht einmal ein Unglück. Es könnte sogar sein, daß Buber für ein so unwissenschaftliches Vorgehen ein gewisses Verständnis gezeigt hätte. Denn man kann sich ja schon einmal die Frage erlauben, ob Buber überhaupt im landläufigen Sinne „objektiver“ Wissenschaftler sein wollte, ja ob er es aufgrund seines dialogphilosophischen Konzeptes überhaupt sein konnte? Denn macht man ernst mit der Einsicht, daß jede echte Begegnung reziprok ist, also auch jede echte „Begegnung“ eines Wissenschaftlers mit seinem Forschungsgegenstand , dann steht von vorneherein nicht nur der zu untersuchende Gegenstand im Mittelpunkt des Interesses, sondern dieser erscheint gleichzeitig immer auch im Lichte des Interesses und der Fragestellungen des jeweiligen Forschers. Dann ist aber der Mythos der Objektivität sehr schnell ad acta gelegt, und man findet sich in dem vor, was man allgemein den hermeneutischen Zirkel nennt. Erkenntnistheoretisch eine Binsenweisheit, aber vielleicht liegt bei Buber der feine Unterschied darin, daß er aus der Not eine Tugend macht, indem er bewußt im Rahmen seines dialogischen Denkens die Subjektivität bejaht. Vielleicht wollte Buber einfach, um es einmal so zu nennen, existentieller Wissenschaftler sein. Ein Blick auf Bubers Werk scheint dies jedenfalls zu bestätigen. Denn liest man beispielsweise seine chassidischen Geschichten, dann gewinnt man nicht unbedingt den Eindruck, daß es ihm um eine historisch-kritische, und in diesem Sinne wissenschaftliche Rekonstruktion des Chassidismus ging. Es scheint fast, daß uns die „Erzählungen der Chassidim“ mehr über die Person und das Denken Bubers lehren als über den historischen Chassidismus. Wie dem auch sei, es könnte jedenfalls sein, daß die folgenden Überlegungen, gerade weil sie Reflex einer Begegnung und nicht objektive Darstellung sein wollen, zumindest ein Quäntchen buberschen Geistes in sich tragen.

Ich habe mir dies so vorgestellt: In einem ersten Teil möchte ich einige zentrale Aspekte von Bubers Dialogphilosophie, so wie er sie in „Ich und Du“ niedergelegt hat noch einmal kurz ins Gedächtnis rufen. In einem zweiten Teil sollen auf diesem Hintergrund dann einige mögliche Konsequenzen für Theorie und Praxis christlichen Glaubens aufgezeigt werden.

Aspekte der Buberschen Dialogphilosophie
„Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung.“ Es gibt also zwei Haltungen, die der Mensch nach Buber der Wirklichkeit gegenüber einnehmen kann. Die eine Haltung wird repräsentiert durch das Grundwort Ich-Du, die andere durch das Grundwort Ich-Es. Beide Male ist das Ich nicht isoliert gedacht, sondern immer schon als ein Ich, das es eben nur in einer der beiden Beziehungen stehend gibt. Es wäre also eine Illusion zu meinen, es gäbe ein Ich an sich. Das, was ich bin, ist immer schon bestimmt durch die Haltung, in der ich der Welt begegne. Ein Ich, das sich z.B. existentiell engagiert an eine Sache oder Person hingibt, ist in gewisser Weise ein anderes Ich als das, das sich bemüht, objektiv und distanziert mit der Wirklichkeit umzugehen.
„Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Das Grundwort Ich-Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden.“ Damit ist deutlich, daß für Buber die Ich-Du-Beziehung die eigentliche ist, während die Ich-Es Beziehung letztlich immer wieder überwunden werden soll. Doch warum ist das so? Warum hat nach Buber die Ich-Du-Beziehung einen eindeutigen qualitativen Vorrang? Deshalb, weil es in der Ich-Du-Beziehung darum geht, mein Gegenüber als Du, als Wesen mit einer eigenen Würde, wirklich ernst zu nehmen, ihm in Offenheit und Akzeptanz zu begegnen. Die Ich-Du-Beziehung ist also durch und durch personal bestimmt, ihr Wesen ist letztlich die Liebe. Eine Ich-Du-Beziehung ist also eine Beziehung, in der ich das Gefühl habe, ganz beim anderen zu sein, in der ich präsent bin, und dabei gleichzeitig doch ganz bei mir. Eine Beziehung also, die dadurch charakterisiert ist, daß ich wirklich in der Beziehung stehe, zwischen dem eigenen Ich und dem anderen Du, und doch – das ist das Paradoxe – ganz bei mir selbst und ganz beim anderen bin. Eine Beziehung, in der Selbsthingabe und Selbstentfaltung kein Gegensatz sind, sonderen sich wechselseitig bedingen: „Ich werdend spreche ich Du.“
Die Ich-Es-Beziehung dagegen muß nach Buber überwunden werden. Denn sie ist von ihrer Grundstruktur her eine apersonale, objektive, und in diesem Sinne distanzierte Beziehung. Distanziert heißt in dem Fall eben auch, daß das Ich in der Ich-Es-Beziehung nie in derselben existentiellen Weise beteiligt sein kann wie in der Ich-Du-Beziehung. Deshalb kann dieses Grundwort nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Und dehalb ist wahre Selbstver¬wirklichung nur in der Ich-Du-Beziehung möglich. Das Grundwort Ich-Es deutet also schon immer auf einen Zustand der Entfremdung hin. In der Ich-Es-Beziehunge fühlt sich das Ich im wahrsten Sinne des Wortes fremd, dort ist es nicht ganz bei sich zuhause.

Wichtig ist noch, darauf hinzuweisen, daß keine Beziehung, ob nun zu einer Sache oder einer Person, nur in der Ich-Du-Beziehung oder in der Ich-Es-Beziehung gelebt werden kann. Die mitmenschliche Beziehung ist zwar von der Grundstruktur her eine andere als die zur belebten oder unbelebten Natur, weil sie von vorneherein streng auf die personale Dimension hin angelegt ist. Aber dieser Unterschied ist im Hinblick auf das in der Beziehung stehende Ich dann doch wieder relativ. Denn auch die Beziehung zu einem Mitmenschen kann in Ich-Es-Kategorien gelebt werden. Ja, vielleicht ist das sogar das Normalere. Denn dort, wo der andere zum Objekt gemacht wird, wo er benutzt wird, wo er nur noch Mittel zum Zweck ist und kein Du mehr mit eigener Würde, dort regiert die Ich-Es-Beziehung. Dabei kann auch in ein und derselben Beziehung das eine unmittelbar auf das andere folgen. Im einen Augenblick ist das Ich präsent, ist es ganz beim andern, steht es in der Beziehung, und dann wird dieser Raum unmittelbarer Beziehung aus welchem Grund auch immer verlassen, und auf einmal ist der andere plötzlich nur noch einer unter vielen, und damit der Es-Welt und nicht länger der Du-Welt zugehörig. Und genauso kann eine an sich eher sachliche Beziehung „duhaft“ werden. Dann zum Beispiel, wenn ich das Geheimnis eines Baumes oder Steines wahrnehme und mir der Stein oder der Baum auf einmal sein Wesen enthüllt. Dann spricht er mich an und wird mir in diesem Sinne zum Du. Oder in der Kunst: „die Wesenstat der Kunst bestimmt den Vorgang, in dem die Gestalt zum Werk wird. Das Gegenüber erfüllt sich durch die Begegnung, es tritt durch sie in die Welt der Dinge ein, unendlich fortzuwirken, unendlich Es, aber auch unendlich wieder Du zu werden, beglückend und befeuernd.“ Vielleicht ist das beste Beispiel die Arbeit. Ein Mensch kann eine Arbeit so verrichten, daß er ganz bei seiner Arbeit ist, daß er durch seine Arbeit Sinn und Erfüllung findet. In dem Sinne hat sie einen Eigenwert, wird sie zum „Du“, zur Ansprache. Ebenso aber kann die Arbeit für ihn nur Broterwerb sein, so daß er letztlich nur eines im Sinn hat: sie so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Vielleicht ist ein guter Indikator für die Art der Beziehung, in der ich gerade stehe, das Zeitgefühl. Die Ich-Du-Beziehung ist eigentlich immer dadurch charakterisiert, daß sie der Zeit enthebt, daß sie etwas Zeitloses, ja Ewiges an sich hat. Was auch logisch ist: denn je präsenter jemand ist, desto mehr verschwinden Vergangenheit und Zukunft. In diesem Sinne ist echte Ich-Du-Beziehung immer zeitlos. Dort, wo dagegen die Ich-Es-Beziehung regiert, dehnt sich die Zeit, manchmal endlos bis zum Gefühl der Langeweile. Jedenfalls gilt für Verliebte und Betende dasselbe: ihnen vergeht die Zeit wie im Flug.
Ein letzter, aber durchaus bedeutsamer Aspekt, sei noch erwähnt: die Beziehung zum ewigen Du: „Die verlängerten Linien der Beziehung schneiden sich im ewgen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm. Durch jedes geeinzelte Du spricht das Grundwort das ewige an. Aus diesem Mittlertum des Du aller Wesen kommt die Erfülltheit der Beziehungen zu ihnen, und die Unerfülltheit.“ Nach Buber hat alle echte Ich-Du-Begegnung etwas mit dem ewigen Du zu tun. Das heißt, die einzelnen Dus sind letztlich transparent für das göttliche Du. Ob in der Natur oder im mitmenschlichen Du, überall enthüllt sich mir immer auch das göttliche Du. Wenn man so will, ist alle Ich-Du-Beziehung von vorneherein implizit religiös. Das heißt dann aber auch, daß echte Gotteserfahrung nicht an sakrale Räume und institutionalisierte Religionen gebunden ist, weil der Ort Gottes sozusagen überall dort ist, wo echte Ich-Du-Beziehung gelebt wird. Man muß also das normale alltägliche Leben nicht verlassen, man muß keine religiöse Sonderexistenz führen, sondern mitten im Leben ist Gott erfahrbar. Alles zielt auf das ewige Du, alles ist im ewigen Du geborgen. „Denn nicht von allem absehen heißt in die reine Beziehung treten, sondern alles im Du sehen; nicht der Welt entsagen, sondern sie in ihren Grund stellen. … ‚Hier Welt, dort Gott‘ – das ist Es-Rede; und ‚Gott in der Welt‘ – das ist andre Es-Rede; aber nichts ausschalten, nichts dahinterlassen, alles – all die Welt mit im Du begreifen, der Welt ihr Recht und ihre Wahrheit geben, nichts neben Gott, aber auch alles in ihm fassen, das ist vollkommne Beziehung.“
Zu Bubers dialogphilosophischem Ansatz gäbe es viel zu sagen, auch manches Kritisches. Doch darum geht es jetzt nicht. Unsere Absicht war ja vielmehr die, von Buber her neue Anstöße und Anregungen für den christlichen Glauben zu bekommen. Ich möchte im folgenden deshalb zeigen, in welcher Weise von Buber her auf manche Inhalte christlichen Glaubens ein neues und überraschendes Licht fallen kann. Dabei geht es, das sei gleich im vorneherein gesagt, um keine absoluten Neuentdeckungen, aber oft genug reicht ja schon eine neue Spra¬che und Perspektive, damit Altes wieder neu werden kann. Dabei wird implizit dann wohl auch deutlich werden, wo der Ansatz von Buber m.E. problemlos aufgenommen werden kann, und wo ich meine, andere Wege beschreiten zu müssen.

Dialogphilosophie und christlicher Glaube
Christlichen Glauben könnte man letztlich als Einübung in die Ich-Du-Beziehung verstehen. Dabei geht es um die Ich-Du-Beziehung zu Gott, die Ich-Du-Beziehung zu unseren Mit¬menschen, die Ich-Du-Beziehung zur Schöpfung und um den inneren Zusammenhang dieser drei Komponenten.
Die Ich-Du-Beziehung zu Gott
Christlicher Glaube ist im wesentlichen ein Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott, ein dialogisches Geschehen, wenn man so will. Gott spricht uns in seiner Liebe an, begegnet uns, und erwartet, daß wir auf seine Liebe mit unserem Vertrauen antworten. Schauen wir uns diese beiden Aspekte einmal etwas genauer an.
Gott begegnet uns. Viele Christen haben ihre Probleme mit der Lehre vom dreieinigen Gott, weil für sie göttliche Einheit und die Lehre von den drei göttlichen Personen ein innerer Widerspruch ist. Wie wäre es nun aber, wenn man einmal versuchen würde, die Trinitätslehre in Buberschen Kategorien zu beschreiben? Dann ginge es bei der Lehre von der Dreieinigkeit nicht primär um abstrakte Spekulationen über das Wesen und Sein Gottes an sich, sondern darum, Gott in seinem Auf-Uns-Zugehen zu erfassen. Das könnte dann ungefähr so aussehen: Der eine Gott schenkt sich uns in Jesus von Nazareth. In Jesus von Nazareth, weil das menschliche Du Jesu in einmaliger und unüberbietbarer Weise transparent ist für das göttliche Du. In seinem Du begegnet uns das uns liebende göttliche Du. Und dies wird in uns zu einer lebendigen Erfahrung durch den göttlichen Geist. Würde man so denken, dann ginge es nicht länger um abstrakte metaphysische Spekulationen über die Gottheit an sich, sondern es ginge um die konkrete Bewegung Gottes hin zu uns Menschen. Eine Bewegung, die sozusagen drei Stufen hat: vom Vater durch den Sohn im Heiligen Geist. „In diesen drei Namen, Vater, Sohn, Geist, tut uns der eine Gott seinen Namen kund.“ Wichtig dabei ist eben: Es geht vor allem um die Stiftung einer Beziehung, einer Ich-Du-Beziehung zwischen Mensch und Gott. Denkt man die Trinität in erster Linie in solchen dynamischen Kategorien der Beziehung – was man vielleicht nur kann, wenn man selbst in dieser Beziehung steht -, dann ist das Problem von Dreiheit und Einheit nicht in der gleichen Weise gegeben. Denn mein Blick – im Gebet zum Beispiel -richtet sich dann immer auf das eine göttliche Du. Dieses eine göttliche Du „habe“ ich zwar nicht anders als im menschlichen Du Jesu, insofern bleibt das christologische Geheimnis gewahrt, aber Jesus schiebt sich nicht zwischen Mensch und Gott, sondern ist in seiner Transparenz Ort authentischer Gottesbegegnung . In diesem relationalen, also beziehungsmäßigen Sinn wird im Neuen Testament meist über den dreieinigen Gott gesprochen. So geht es bei der göttlichen Offenbarung immer um den einen Gott, der sich uns durch Jesus im Heiligen Geist schenkt. Und im Gebet geht es immer um das Gebet zum einen Gott durch Jesus im Heiligen Geist. Solche Rede hat aufgrund des dynamischen Vorgangs, den sie beschreibt, deshalb auch aus gutem Grund narrativen Charakter. Denn von dem Gott, der sich aus Liebe aufmacht, um uns zu begegnen, kann man letzlich nur erzählen. Dem engagierten und leidenschaftlichen Gott der Bibel entspricht allein eine engagierte und leidenschaftliche, ja dramatische Sprache. Über den Gott der Philosophen, den „unbewegten Beweger“ des Aristoteles mag man nach Herzenslust in Ich-Es-Kategorien spekulieren, dem zutiefst bewegten Gott der Bibel entspricht eher Bubersches Ich-Du-Denken. Ich meine jedenfalls, daß immer wieder sehr deutlich gesagt werden sollte, daß allein diese dynamische Lehre vom dreieinigen Gott neutestamentlich ist und zum Grund¬bestand des christlichen Glaubens gehört: Gott offenbart und schenkt uns sein Du durch Jesus im Heiligen Geist. Die in der Alten Kirche entstandene abstrakt-metaphyische Lehre von der Dreieinigkeit mag als dogmatische Schutzlehre gegen Häresien eine relative Berechtigung ha¬ben, zur christlichen Grundbotschaft darf sie m.E. nicht gezählt werden. Glaube an den dreieinigen Gott ist etwas anderes als Glaube an die Lehre von der Dreieinigkeit.
Gottes Anrede in Jesus von Nazareth zielt auf unsere menschliche Antwort. „Beziehung ist Gegenseitigkeit.“ Auch wenn Gott uns zuerst geliebt hat, diese Liebe erreicht ihr Ziel erst dort, wo der Mensch mit seiner Liebe und Hingabe der göttlichen Liebe ent-spricht. E.Brunner hat ein kleines Büchlein geschrieben mit dem Titel „Wahrheit als Begegnung.“ Darin zeigt er auf¬grund mancher Anstöße durch die Dialogphilosophie, daß christliche Wahrheit immer eine Beziehungswahrheit ist. Es geht nicht darum, daß wir die Wahrheit haben, sondern darum, daß wir in der Wahrheit sind. Der Mensch ist ein personales, ein duhaftes Wesen, und gemäß christlichem Glauben erfüllt sich sein Wesen erst dort, wo er dem personalen, sich ihm in Christus schenkenden Gott mit seiner Liebe und seinem Vertrauen entspricht.
In der traditionellen Dogmatik unterscheidet man zwischen fides quae, dem Glaubensinhalt, und fides qua, dem Glaubensakt, dem Vertrauen. Nimmt man diese Unterscheidung auf, dann müßte man sagen: das konkrete Vertrauen ist das, worauf es eigentlich ankommt. Denn allein ein solches Vertrauen zu Gott hat existentielle Qualitäten. Natürlich ist solches Vertrauen nicht grundlos, es hat seinen Grund in der Vertrauenswürdigkeit Gottes, die Gott uns in der Geschichte Israels und in Jesus von Nazareth gezeigt hat. Insofern die Glaubensinhalte diese Vertrauenswürdigkeit Gottes bezeugen, sind sie nicht bedeutungslos. Aber: letztlich zielt das Ganze auf ein neues Verhältnis, eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch und Mensch und Gott. Martin Buber würde ein solches religiöses Vertrauensverhältnis emuna nennen. Denn mit diesem Begriff wird im Judentum das Vertrauen des Menschen zu Gott bezeichnet. Nun ist die emuna sicher ein Zentralbegriff jüdischen Glaubens, aber eben nicht nur das, sondern eben auch ein Kernbegriff des christlichen Glaubens. Um diese emuna geht es im Judentum wie im Christentum. Genau dies nun allerdings hat Buber in seinem Buch „Zwei Glaubensweisen“ be¬stritten. Für ihn ist die emuna als Vertrauen primär die typisch jüdische Glaubensweise, während es im christlichen Glauben wesentlich stärker um Glaubensinhalte geht, also um die fides quae. In dieser Weise versteht er dann auch den neutestamentlichen Glaubensbegriff, die pistis. Doch genau darin geht er fehl. Ich glaube einfach, daß Buber, was man ihm nicht verübeln kann, die konkrete christliche Glaubenspraxis, so wie er sie vielleicht erlebt hat, nicht gründlich genug von dem unterscheidet, was christlicher Glaube von seinem Ursprung her sein sollte. Denn faktisch war es sicher so – darin ist ihm zuzustimmen -, daß die Glaubensinhalte den Glaubensakt oft derart überwucherten, daß das konkrete Vertrauen hinter einem Berg von Glaubenssätzen verschwand. Sehr schnell wuchs das christliche Dogmengebäude zu einem riesigen Wust von Glaubensinhalten an. Mit dem Ergebnis, daß ein guter Christ dann auf einmal der war, der alle möglichen Dogmen „glauben“, d.h. intellektuell akzeptieren konnte. Und das war nicht nur einst in der mittelalterlichen Kirche so, sondern das ist in manchen fundamentalistischen Gruppen heute immer noch so. Wer es nicht glauben will, der äußere in einer solchen Gruppe nur einmal ganz vorsichtig den Verdacht, daß es in der Bibel das eine oder andere geben mag, das vielleicht nicht so ganz stimmt. Er wird überrascht sein, wie schnell ihm sein Christsein abgesprochen wird. Das Motto ist jedenfalls immer dasselbe, ganz egal, ob es sich um kirchlichen Dogmatismus oder um frommen Fundamentalismus handelt: Du bist dann ein guter Christ, wenn du dies und das glaubst. Hier ist Glaube zu billiger Ideologie entartet. Und eine solche Haltung ist darüber hinaus sogar gefährlich. Denn sie verstrickt Menschen in der Illusion, es wäre alles in Ordnung, Doch in Wirklichkeit ist nichts in Ordnung, da der Mensch nur in seinen Lebenslügen stabilisiert wird und die existentiell real verändernde emuna ihre Wirkung nicht entfalten kann. Insofern hatte Buber recht. Nicht recht hatte er m.E. in der Vermutung, daß dieses Verständnis, oder besser Mißverständnis, von Anfang an zur neutestamentlichen Botschaft dazugehöre. Ich glaube, daß es sich hier um eine eindeutige Fehlentwicklung handelt. Sicher gehören zum Christentum von Anfang an Glaubensinhalte dazu, so wie übrigens auch im Judentum. Aber solange diese in einem relationalen Kontext vorhanden sind, ist die Gefahr der Ideologisierung noch nicht gegeben. Die Ideologisierung beginnt erst immer dort, wo nicht mehr deutlich wird, daß Gottes Handeln in der Geschichte Anrede ist, die auf unsere Antwort zielt.

Die Ich-Du-Beziehung zum Mitmenschen
Nun ist es klar, daß die Vertrauensbeziehung zu Gott nicht nur ein einmaliger Akt ist, sondern letztlich ein Beziehungsgesschehen, das das menschliche Leben in all seinen Aspekten durchdringen soll. Man könnte geradezu sagen: Christliche Existenz zeichnet sich dadurch aus, daß alles immer tiefer vom dialogischen Prozeß durchdrungen wird. Und hier steht an erster Stelle natürlich die zwischenmenschliche Beziehung.
Der Mensch, der im Angesicht Gottes die Personalität neu entdeckt, wird automatisch auch sensibilisiert für das mitmenschliche Du. Indem er das Geheimnis des Du erfährt, des göttlichen Du und darin des eigenen Du, geht ihm auf, daß auch der andere aufgrund dieses Geheimnisses lebt. Und diese Sicht, dieser neu gewonnene Blick macht neu beziehungs- und liebesfähig, auch dort, wo vielleicht zuerst keinerlei Sympathie vorhanden ist. Dies kann an Jesus von Nazareth, der für uns Christen ja auch das Urbild gelungenen menschlichen Lebens ist, gut nachvollzogen werden.
Wenn man sich das Leben Jesu betrachtet, dann ist es ganz erstaunlich, daß Jesus die Kraft hatte, Menschen anzunehmen, die nicht gerade zu den sympathischsten Erscheinungen gehörten: Kriminelle, Zöllner, Aussätzige und Prostituierte. Woher hatte er diese erstaunliche Kraft der Liebe, diese Fähigkeit, andere bedingungslos anzunehmen? Ich denke, daß Jesus, um es einmal ganz schlicht zu sagen, die Fähigkeit hatte, tiefer zu sehen. Er sah nicht nur die äußere Fassade eines Menschen, die vielen Rollen, die sich einer im Laufe seines Lebens angeeignet hat. Jesus hatte einen Blick für das Wesen eines Menschen, einen Blick für seine wahre Bestimmung, für die ungeheuere Fülle von Potentialitäten, die im Grunde eines jeden Menschen schlummern. Und vor allem sah Jesus das Du. Jesus sah die Gottebenbildlichkeit.
Wenn ein Bildhauer vor einem rohen und unbehauenen Stein steht, dann kann es manchmal passieren, daß vor seinem inneren Auge eine Vision aufsteigt, daß er plötzlich hinter den rauhen und ungeschliffenen Kanten die Umrisse einer schönen Skulptur wahrnimmt. Noch ist diese hinter dem rauhen Stein verborgen. Noch ist alles mehr Traum als Wirklichkeit. Und doch: Alles was später an dieser Skulptur bewundert werden wird, ist auf verborgene Weise schon in diesem Stein enthalten. Es bedarf nur noch des Hammers und des Meißels, um das Äußere wegzuschlagen.
In diesem Sinne sehe ich in Jesus einen Visionär von ungeheuerer Kraft. Er sieht den Men¬schen aus der Perspektive Gottes, sieht, was einer werden kann, auch wenn das Wesen noch verborgen ist. Mit dem Blick eines Magiers begegnet Jesus den Menschen. Er spricht sie auf ihr duhaftes Wesen, auf ihre Personalität hin an, er lockt dieses Du in der Beziehung hervor. Er hält den Menschen so gleichsam das positive Bild ihrer selbst vor, und gerade so verändert er sie. Solange Menschen einander nur die negativen Bilder vorhalten, die sie sich voneinander gemacht haben, solange bleiben sie im Negativen gefangen. Allein dort, wo das positive Bild im Umgang miteinander bestimmend wird, geschieht Veränderung. Und das positive Bild zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es kein Bild im eigentlichen Sinne ist, sondern schöpferische Offenheit für das, was am anderen im Akt der Be¬gegnung offenbar werden will. Jesus ist der große Magier. Und sein Zauberstab ist das Wört¬lein Du. Aber dies alles ist und kann er wiederum nur deshalb sein, weil sein Leben in intimer Gottesbeziehung gründet.
Wie im Leben Jesu, so kann auch bei seinen Nachfolgern durch die personale Gottesbeziehung das menschliche Du neu wichtig werden. Aber auch das Umgekehrte gilt. Und darin sind wir wieder ganz nahe bei Buber. Nicht nur das göttliche Du führt zum menschlichen Du, sondern auch das menschliche Du ist transparent für das göttliche, für das ewige Du. Freilich – dies zu betonen erscheint mir gegenüber Buber wichtig – hat die mitmenschliche Beziehung und die Gottesbeziehung jeweils ihr Eigenrecht. Um der göttlichen und menschlichen Würde willen darf nicht alles vereinheitlicht werden. Bei Buber sind die Grenzen in dieser Hinsicht zu fließend gedacht. Aber da es sich hier um ein feines Beziehungsgeflecht handelt, wo alles innig miteinander verwoben ist, kann man Buber wiederum auch verstehen, denn faktisch ist es tatsächlich so, daß Gottes- und Menschenliebe nicht völlig voneinander zu trennen sind, sondern nahtlos ineinander übergehen.
Die Ich-Du-Beziehung im Alltag
Ein letzter Aspekt, der nur noch angedeutet werden kann. Die dialogische Beziehung umfaßt nicht nur die Gottesbeziehung und die mitmenschliche Beziehung, sondern letztlich die Beziehung zu allem Seienden. Alles kann transparent werden für das göttliche Du. Die Natur, indem sie ihr Geheimnis enthüllt und als Schöpfung offenbar wird. Aber auch der Alltag in seiner Vielfalt: Zeit, Arbeit, Essen, Freude, Trauer und was sonst noch alles dazugehört. Wobei ganz entscheidend ist, daß das Leben hier nicht nur Mittel zum Zweck ist, eben zum Zweck der Offenbarung des göttlichen Du. Denn dort, wo es transparent wird, kommt es de facto selbst zum Leuchten. Um es an einem einfachen Beispiel klar zu machen: Ein frommer Jude, der am Morgen spricht „Ich danke dir, ewiglebender König, daß du mir in Liebe meine Seele wiedergegeben, groß ist deine Treue“, oder ein Christ, der ein vergleichbares christliches Morgengebet spricht, wird einen Tag gerade aufgrund dieser wahrgenommenen Transparenz sicher anders und tiefer erleben. Er bekommt ein neues und tieferes Zeitbewußtsein. Für ihn ist dieser konkrete Tag wie eine neue Geburt, eine neue Chance, die Gott ihm geschenkt hat. Und damit ist sein Blick in intensiverer Weise auf all das gerichtet, was ihm konkret begegnen wird, es ist eine Haltung der Spannung und Erwartung erzeugt, eine Haltung des Staunens. Langeweile und Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber vertragen sich mit die¬ser Art von religiöser Existenz jedenfalls nicht.

Dieses Verständnis von Heiligung ist typisch jüdisch und typisch christlich zugleich. Es kommt deutlich im Schulchan Aruch zum Ausdruck, einer Zusammenfassung der wichtigsten talmudischen Vorschriften für das tägliche Leben, wo es gleich in den ersten Sätzen heißt:

„‚Ich habe den Ewigen stets vor Augen‘ (Ps. 16,8), das ist eine wichtige Regel in der Thora und den Eigenschaften der Frommen, die vor Gott wandeln. Denn es ist nicht das Sitzen des Menschen, seine Bewegung und sein Benehmen, wenn er allein zu Hause ist, gleich seinem Sitzen, seiner Bewegung und seinem Benehmen, wenn er sich vor einem großen König befindet. … Um so mehr, wenn der Mensch bedenkt, daß der große König, der Heilige, gelobt sei ER, dessen Herrlichkeit die ganze Erde erfüllt, bei ihm steht und seine Handlungen sieht.“
Hier ist es deutlich ausgesprochen: Durch das Bewußtsein der göttlichen Gegenwart, des göttlichen Du, bekommt das Leben eine neue und höhere Qualität. Praktisch geschieht das im Judentum durch die täglichen Gebete und Berachot (Segenssprüche), die den Alltag in die Gegenwart Gottes rücken. Im Christentum gibt es diese fest vorgeschriebenen Berachot und Gebetszeiten zwar nicht, aber die Tendenz ist dort, wo man es mit Spiritualität überhaupt ernst nimmt, jedenfalls diesselbe: es geht um eine ganzheitliche Durchdringung des menschlichen Lebens mit dem dialogischen „Element“.

Vieles konnte nur angedeutet werden, vieles ist aufgrund der hier gebotenen Kürze vielleicht auch mißverständlich. Aber ich hoffe jedenfalls, daß ein wenig deutlich geworden ist, daß die Bubersche Ich-Du-Philosophie für Christen eine reiche Quelle der Inspiration sein kann. Das ist natürlich kein Zufall. Denn Buber steht nicht in einem leeren Raum, sondern schöpft als Jude, wenn auch nicht als orthodox praktizierender Jude, unablässig aus den Quellen seiner Religion. Und wenn es etwas gibt, das Christentum und Judentum eng miteinander verbindet, dann ist dies sicher das dialogisch-personale Element.

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