Der leidende Gottesknecht - Predigt zu Karfreitag (2014)

Liebe Gemeinde!

Die Kreuzigung Jesu war für die Jünger und Jüngerinnen das Schlimmste, was man sich nur vorstellen kann. Selbst nach der Auferweckung Jesu, als ihnen langsam dämmerte, dass Gott das Dunkel des Todes durch seine Liebe und göttliche Lebenskraft überwunden hat, waren all die schwierigen Fragen, die mit dem Tod Jesu zusammenhingen, nicht einfach vom Tisch. Immer noch war sie da, diese bohrende Frage: Warum hat Gott es zugelassen, dass der, dem seine ganze Liebe galt, auf so brutale und erniedrigende Weise sterben musste?

Doch was machen fromme Juden wie die ersten Jünger und Jüngerinnen, wenn sie mit solchen Fragen ringen? Ganz einfach: Sie befragen die Heilige Schrift. Sie lesen, lesen und lesen, sie beten, sie studieren, sie diskutieren, solange bis sie endlich das Gefühl haben, dass sich da etwas auftut, dass ihnen da ein Licht entgegenkommt, das hilft, das Dunkle und Schwierige aus der göttlichen Perspektive zu begreifen. Der Text nun, der sie nicht mehr losgelassen hat und der ihnen in entscheidender Weise geholfen hat, den Tod Jesu zu verstehen, war ein Text aus dem Propheten Jesaja: Jesaja 53, das berühmte Lied vom leidenden Gottesknecht. Ein alter Hymnus, wo exemplarisch beschrieben wird, wie ein frommer und Gott hingegebener Mensch schlimm leiden, ja sogar sterben musste, dann aber von Gott auf unglaubliche Weise ins Recht gesetzt und erhöht wurde. Es waren diese Worte, in denen man einen prophetischen Hinweis auf das sah, was in Jesus Christus geschehen ist. Es gab viele Gottesknechte, natürlich, aber Jesus – das wurde ihnen klar – war der größte, der entscheidende, der, in dem alle Linie zusammen laufen. Aber hören sie selbst: Jesaja 53,1-12.

Ist es Ihnen beim Lesen aufgefallen? Die Perspektive, aus der hier erzählt wird? Hier sprechen Menschen, denen es erst im Nachhinein wie Schuppen von den Augen gefallen ist, was da eigentlich passiert ist. Anfangs gehörten sie anscheinend selbst zu denen, die über diesen Menschen spotteten, die ihn verachteten und erniedrigten. Jetzt aber sehen sie, wie sehr sie sich geirrt haben. Klar: Die Jünger und Jüngerinnen haben Jesus, ihren Meister, nicht verspottet, als sie unter dem Kreuz standen, aber in gewisser Wisse ging es ihnen ganz ähnlich. Auch sie konnten in all dem Schlimmen keinen Sinn sehen. Auch sie waren nur noch traurig und verzweifelt, weil all ihre Hoffnungen, dass Jesus die große Erlösung bringen würde, durch die grausame Wirklichkeit widerlegt erschienen. Doch jetzt lesen sie diesen Text – und plötzlich geht es ihnen durch und durch. Plötzlich kapieren sie: Man kann alles auch ganz anders sehen, ja man muss es ganz anders sehen. Das Kreuz Jesu verdunkelt Gott nicht, sondern es offenbart Gott. Erst im Leiden und Sterben Jesu wird offenbar, wer Gott wirklich ist, und es wird auch offenbar, wer wir Menschen sind. Ja, das Kreuz Jesu stellt viel von dem auf den Kopf, was wir bislang über Gott gedacht haben. In gewisser Weise ist es ein Schock, aber vielleicht ist es gerade dieser Schock, den wir brauchen, damit wir endlich unsere Illusionen aufgeben, wach werden und den Weg zum Leben finden. Also, was zeigt sich hier? Was wird hier offenbar?

Es zeigt sich, dass unsere menschliche Gottessuche eine gewisse Schieflage hat. Oft genug suchen wir Gott oder das Göttliche nur im Großen, im Schönen, im Starken und Mächtigen. Ich würde auch gar nicht sagen, dass das nur falsch ist. Wenn jemand auf dem Gipfel eines hohen Berges steht und dann die Schönheit der Natur wahrnimmt, diese phantastische Welt, in der wir leben dürfen, wenn er dadurch dann etwas von der Erhabenheit, der Schönheit und der Größe Gottes begreift, dann ist das sicher kein falscher Gottesdienst. Nein, in aller Schönheit atmet etwas von der göttlichen Schönheit. Das Problem ist, dass wir Gott oft nur und ausschließlich im Perfekten, Schönen und Großen suchen. Aber Gott ist ein Liebhaber allen Seins. Er liebt auch das Kleine, das Unbedeutende, ja selbst das in unseren Augen Hässliche. Er sieht nicht nur den faszinierenden Wirbel der Galaxien, er sieht auch das Gänseblümchen am Wegesrand. Er liebt nicht nur die schönen, kräftigen und intelligenten Menschen. Er liebt auch die zumindest in unseren Augen nicht ganz so Schönen, die nur mittelmäßig Begabten, die Schwachen und Kranken.
Es ist diese göttliche Liebe, die in Jesus ihre tiefste Gestalt fand: Jesus war ein Freund des Kleinen und Unscheinbaren, einer, der aus der Liebe Gottes heraus lebte und deshalb alles im Lichte dieser Liebe sah. Deshalb hat sich Jesus allen zugewandt, auch den hoffnungslosen Fällen, auch denen, die Schlimmstes getan haben. Er tat alles, um einen halb niedergetrampelten Baum wieder aufzurichten oder ein fast verloschnes Feuer wieder neu zu entfachen. Wir Menschen stehen immer in der Versuchung, Gott nur im Großen zu suchen, haben umfassende Pläne und Ideale im Hinterkopf, wie eine bessere Welt ausschauen müsste und übersehen dabei, dass das Göttliche uns im Kleinen begegnet, dass es auch nicht primär in der Zukunft liegt, sondern in der Gegenwart. Als Jesus wieder mal das Gefühl hatte, dass die Menschen um ihn herum zu sehr mit ihren großen Gedanken und Plänen beschäftigt waren, da stellte er ein Kind in die Mitte und sagte: In diesem Kind – und Kinder waren damals nicht besonders geachtet -, in diesem kleinen Kind mit all seinem Staunen, seiner Begeisterung und Hilfsbedürftigkeit, ist Gott euch nahe.

Diese gewaltige Liebe zum Kleinen und Unscheinbaren, stößt in einer Welt, wo jeder groß sein will, wo Macht und Einfluss zählen, nicht auf Gegenliebe. Jesus wird als Störfaktor empfunden, und deshalb ist es sicher kein Zufall, dass er am Ende das Schicksal all des Kleinen, Unscheinbaren, des Verletzten und manchmal auch Hässlichen an sich selbst erleidet. Er wird entsorgt. Er landet auf der Müllkippe, dort, wo alle landen, die nicht in unsere strahlende und schöne Welt hineinpassen, zusammen mit all den anderen im wahrsten Sinn des Wortes Abgeschobenen. Aber genau hier leuchtet Gott neu auf. Muss ich noch extra sagen, wo unser Platz wäre, wenn wir diese Nähe Gottes im Kleinen ernst nehmen wollen?

Das zweite, was am Kreuz offenbar wird, ist, dass Gottes Liebe auch dort stark ist und stark bleibt, wo sie in äußerster Härte mit menschlichem Hass und menschlicher Bosheit konfrontiert wird. Am Kreuz kommt es zu einer letzten Konfrontation zwischen menschlicher Selbstsucht und göttlicher Liebe. Wie heißt es hier so eindrücklich: Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Man kann es auch anders sagen: Die Menschen um das Kreuz Jesu herum hatten eines gemeinsam: Jeder war sich selbst der Nächste! Die Jünger hatten einfach Angst, deshalb haben sie Jesus im Stich gelassen. Pilatus wollte Karriere machen, wollte sich nicht nachsagen lassen, dass er einem messianischen Aufrührer nicht rechtzeitig entgegengetreten ist. Auch wenn er selbst Jesus nicht als gefährlich empfand, wer weiß, was die Presse daraus gemacht hätte. Der Kaiser hat ja überall seine Leute. Und die Religiösen, die werden immer unruhig, wenn sie das Gefühl haben, dass einer auftritt, der „ihr“ System in Frage stellt, und damit auch die Basis ihres gesellschaftlichen Ansehens zerstört. Und dann sind da noch die vielen Mitläufer. Man ist nicht wirklich gegen Jesus, aber man kann sich ja nicht um alles kümmern. Am Tod Jesu haben nicht nur die einen Schuld, nicht nur „die Juden“, aber auch nicht nur „die Römer“, wir alle haben zu diesem Tod beigetragen. Aber nun beginnt das eigentliche Wunder, und das besteht darin, dass Jesus, und in ihm Gott selbst, trotz dieses menschlich brutalen Feldzuges, der da aufgeboten wurde, nicht mit Hass und Gegengewalt reagiert haben, sondern mit Sanftmut und Liebe: Er trug, heißt es hier, man könnte auch sagen, er ertrug unsere Krankheit. Er wurde gemartert, aber er tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wurde. Jesus hat die Bosheit erlitten, aber er hat am Menschen festgehalten. Er hat an mir und dir festgehalten, und tut es weiter. Damit hat er auf die tiefste Weise die Liebe Gottes offenbart. Damit hat er aber auch deutlich gemacht, was in unserer Welt geschehen muss. Dort, wo Gewalt mit Gegengewalt, Beleidigung mit frecher Widerrede, Erniedrigung mit Aggression beantwortet wird, dort gibt es nie Frieden. Dort gehen der Hass und die Aggression immer weiter. Dort jedoch, wo die Liebe durchhält, dort läuft sich die Sünde allmählich tot. Es ist wie bei Wellen! Dort, wo sie gewaltsam gebrochen werden, dort wird ihre Gewalt erst offenbar, aber wenn sie sich auslaufen dürfen, dann ist es mit ihrer Macht schnell vorbei.

Das dritte und letzte, was am Kreuz offenbar wird: Jesus, der wahre Gottesknecht zeichnet sich dadurch aus, dass er in vollkommenen Vertrauen zu Gott lebt und dann eben auch stirbt. Er ist nicht der Meinung, dass er aus eigener Kraft die Welt erlösen kann und muss. Er kann sterben. Er kann abnehmen. Er kann loslassen. Er kann das alles, weil er weiß, dass Gott alles kann, ja selbst das Schrecklichste in das Schönste verwandeln kann. Dieses Wissen, diese Gewissheit, diese Gottesgewissheit hat ihn frei gemacht von allem falschen und überheblichen Aktivismus, ist seine größte Stärke, so dass gerade auch an diesem Punkt gilt: Dort, wo menschlich gesehen nur noch Ohnmacht zu sehen ist, da zeigt sich, wenn man tiefer sieht, was wahre Macht ist. An dieser inneren Gewissheit, dass wir die Welt nicht erlösen müssen, weil Gott es tun wird, an diesem Vertrauen, will uns der auferweckte Gottesknecht Teil geben, dann wird sein Kreuz für uns zum Baum des Lebens.

Das Kreuz Jesu, sein Tod – der Blick im Nachhinein, von Gottes Geist erleuchtet lässt uns erkennen: Ja, dieser Tod musste sein. Nicht, weil Gott grausam ist, nicht weil Gott ein Freund des Leides oder des Todes ist, sondern weil wir anders nicht erkannt hätten, wer Gott ist, und auch: wer wir selbst sind: Jetzt wissen wir: Gott sagt Ja zu uns, auch wenn er das, was wir oft tun, nicht ertragen kann. Jetzt wissen wir: Nur wo wir dem Bösen nicht durch Böses widerstehen, werden wir es los, und schließlich: Nur, wo wir ganz passiv und vertrauend werden, kann Gott zum Durchbruch kommen.

Amen

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Aktuelles

31. Januar 2022

Jesu Weg und unser Weg - eine Pilger- und Wanderreise auf Jesu Spuren

Sie fahren gerne im klimatisierten Reisebus durch exotische Länder, um nur ab und zu für genau getaktete Besichtigungen auszusteigen? Sie finden es zu anstrengend, sich auch mal selbst auf den Weg zu machen, um im Gehen die Landschaft wirklich unter die Füße zu bekommen und neue Erfahrungen zu machen? Sie wollen alles sehen, was zu sehen ist, auch wenn Sie dabei kaum noch aufnahmefähig sind? Sie interessieren sich für Religion und Theologie, aber haben kein so großes Interesse daran, über Glaubensfragen mit sich selbst oder anderen Menschen ins Gespräch zu kommen? … Wenn das so ist, dann würde ich Ihnen von meiner Pilgerreise nach Israel/Palästina dringend abraten. Im anderen Fall kucken Sie sich mein Angebot gerne mal an …

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5. April 2021

„Das Café am Rande der Welt“ und die Geschichte von den Emmausjüngern

Gestern habe ich ein kleines Büchlein gelesen: „Das Café am Rande der Welt“, von John Strelecky. Ein Bestseller! Deutsche Erstausgabe: 2007. Ich halte die 54. Auflage aus dem letzten Jahr in der Hand. Beachtlich! Wieder mal ein Bestseller, den ich relativ spät gelesen habe.

Wie auch immer. Ich fand das Buch anregend. Nicht so sehr wegen seines Inhalts. Den habe ich einfach schon zu oft gehört und gelesen in der immer inflationärer werdenden Lebensratgeber-Literatur. Er heißt auf den Punkt gebracht: „Lebe dein Leben, und zwar jetzt – und lass dich nicht für blöd verkaufen von denen, die dir durch ihre oft materiellen Glücksverheißungen das Blaue vom Himmel versprechen.“ In diesem Buch wird übrigens sogar ein Kürzel für den Sinn des Lebens gefunden, und das heißt: „ZDE“ = „Zweck der Existenz“. Diesen ganz individuellen „ZDE“ gilt es zu finden und zu leben. Irgendwie natürlich alles richtig, aber auch ein wenig banal, vor allem: wenn das bloß immer so einfach wäre. Viktor Frankl, der bekannte Psychotherapeut aus Österreich, hat sich dieser Aufgabe übrigens schon vor längerer Zeit auf etwas höherem Niveau gestellt. Er nannte das Logotherapie. Eine Therapie, die den Menschen individuell helfen soll, ihren spezifischen Lebenssinn zu finden, also das, wofür sie da sind. Was wiederum eine der drei Fragen ist, mit denen der Besucher dieses eigenartigen Cafés auf der Speisekarte konkfrontiert wird: „Wozu bin ich da?“ Aber lassen wir das! Wie gesagt, was mir gefallen hat, ist weniger der Inhalt. Es ist vor allem die Rahmengeschichte, und die ist folgendermaßen konstruiert:

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13. März 2021

Wie Corona unsere Gesellschaft verändert

Ich erinnere mich noch an die Zeit vor einem Jahr. Frühling 2020! Damals war Corona für uns alle noch Neuland. Neben allem Schlimmen, das wir erlebten und wovor wir Angst hatten, gab es auch einen leisen Optimismus. Viele hofften, dass durch die Pandemie auch Positives in Gang kommen würde. Covid-19 galt als Augenöffner. Der „Brennglaseffekt“ war in aller Munde. Bernd Ulrich schrieb in der Zeit (20.05.):
„Corona ist nicht die Mutter aller Krisen, noch weniger stellt sie die größte Gefahr für die Menschheit dar (das ist und bleibt das ölologische Desaster, das sich mit wachsendem Tempo vollzieht), Corona ist aber vielleicht die aufklärerischste Krise, weil sie die Welt so verlangsamt hat, dass man ihre Bewegungsgesetze besser verstehen kann.“

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